Manche Maedchen muessen sterben
richtiges Essen im Haus, bloß Dinge wie Wein und Ketchup und gelegentlich einen Karton von irgendeinem Essens-Lieferservice. Richies Eltern verbringen die meisten Wochentage in der Stadt, wo sie eine Galerie betreiben; warum sollten sie sich also damit abgeben, Lebensmittel einzukaufen? Es ist ja schließlich nicht so, als müsse ihr Sohn etwas essen oder dergleichen.
Richie und seine Mutter stehen zusammen in der Küche, während Mrs. Wilson in den riesigen, beinahe leeren Kühlschrank aus rostfreiem Stahl schaut. Abgesehen von den Regalen in der Innentür, die mit Gewürzen vollgestopft sind, ist alles, was ich darin sehe, eine Zwei-Liter-Flasche Limo, eine Pizzaschachtel und ein Tetrapack Sojamilch. Als ich die Sojamilch jetzt sehe, fällt mir ein, dass sie schon seit Monaten im Kühlschrank steht.
»Richard, ich weiß, es wird dir nicht gefallen, was ich dir jetzt sage, aber ich möchte nicht, dass du Zeit mit Josie verbringst. « Die Küche ist modern, glänzend, kalt: ganz Marmor und Stahl und Glas. Alles hier kündet fast vorsätzlich von Hunger, gepaart mit dem auffälligen Fehlen von Lebensmitteln jeglicher Art. An einem Haken hängt ein Bund Ersatzschlüssel. Der Geschirrspüler mit seiner transparenten Glasklappe ist komplett leer. An den meisten Tagen hat Richie bei mir drüben gefrühstückt. Ich bin mir nicht sicher, wie er seinen Morgen jetzt verbringt.
»Sie hat gerade ihre Schwester verloren«, sagt er. »Es geht ihr nicht gut.«
»Genau das ist der springende Punkt. Sie hat gerade ihre Schwester verloren.« Als Mrs. Wilson den Kühlschrank schließt, verdüstert sich ihre Miene. Das einzige Licht in der Küche stammt von dem Fenster über der Spüle und schneidet den Raum in zwei Hälften, wie um Richie und seine Mom räumlich zu trennen. Mrs. Wilson – dünn; in den Fünfzigern; kein Make-up; dunkles, lockiges braunes Haar; sie trägt ein Flanellhemd und schmutzige Jeans – presst den Ballen ihrer Handfläche gegen die Stirn und lehnt sich gegen die Kücheninsel. »Du bist noch zu jung, um dich daran zu erinnern, wie es damals war, kurz bevor Liz’ Mutter starb. Lisa war meine Freundin. Richard, sie hat sich bei mir regelmäßig wegen Nicole ausgeweint. Sie sagte zu mir: ›Diese Frau versucht, mir meinen Mann wegzunehmen.‹ Es war unsagbar traurig. Die vier, also Josies Eltern und Liz’ Eltern, waren anfangs miteinander befreundet. Lisa wusste nicht, dass Nicole wie besessen von ihrem Ehemann war. Kannst du dir das vorstellen?« Sie verspottet ihn ein bisschen. »Nein, natürlich nicht. Du bist noch ein Kind.«
Richie starrt auf seine weißen Schuhe. »Was soll ich deiner Meinung nach machen, Mom? Ich kann Josie nicht einfach links liegen lassen. Das hat sie nicht verdient. Sie hat nichts getan.«
»Sie ist seine Tochter. Josie ist Marshalls Tochter. Das weißt du doch, oder? Diese Affäre ging über Jahre , geradewegs vor unser aller Nase. Und dann starb seine Frau. Sie hat sich zu Tode gehungert . Sie fühlte sich gedemütigt, sie war gebrochen. Weißt du, ich glaube, sie war noch keine Woche unter der Erde, als Nicole für Marshall ihren Mann verließ.«
Es gibt einige Dinge, an die ich mich nicht erinnern will, ganz gleich, was ich hier vielleicht erfahre. Ich will nicht zuhören; ich will das alles nicht hören. Aber ich kann nicht anders.
»Das ist Jahre her«, sagt Richie.
»Es war grässlich.« Mrs. Wilson richtet sich auf und geht zum einzigen Teil der Küche, der halbwegs gut bestückt ist: zum Weinschrank. Sie öffnet eine Flasche Rotwein und gießt etwas in einen Kaffeebecher mit einem Abbild von Edvard Munchs Der Schrei auf der Seite.
Richie blinzelt sie mit seinen langen, jungenhaften Wimpern an. »Mom«, sagt er. »Es ist noch nicht einmal Mittag.«
»Ist schon in Ordnung.« Sie umklammert den Becher mit beiden Händen. Ihre Finger sind voller Ton, die Nägel kurz und spröde und unlackiert; für jemanden, der dermaßen auf Ästhetik fixiert ist, wirkt sie unglaublich gewöhnlich. Sie pustet in den Becher, wie in dem Versuch, den Inhalt ein wenig abzukühlen. »Tun wir so, als sei’s Kaffee.«
»Du mochtest Liz. Ich weiß, dass du sie mochtest.« Richie blickt zum Fenster hinaus, zum Himmel empor; es scheint, als wolle er überall hinschauen, bloß nicht zu seiner Mutter. Sie nimmt solchen Anteil am Leben ihrer Nachbarn. Doch gleichzeitig ist es vermutlich Jahre her, seit sie ihrem einzigen Sohn das letzte Mal eine richtige Mahlzeit gekocht hat.
»Ja. Sicher, ich
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