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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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mochte sie. Sie konnte nichts für all das, nicht wahr? Sie tat mir wahnsinnig leid.«
    »Und warum ist das bei Josie anders? Es ist nicht ihre Schuld, wie ihre Eltern sind.«
    »Aber sie ist ihre Tochter. Liz war wenigstens Lisas Kind.« Dieser Umstand scheint für Mrs. Wilson große Bedeutung zu haben. »Ich möchte nicht mehr, dass du dort rübergehst. Dein Zuhause ist hier.« Und zum ersten Mal scheint ihr sein Aufzug aufzufallen. »Warum bist du so angezogen?«
    »Ich wollte laufen gehen«, sagt Richie. »Ich muss hier raus. Jetzt sofort.«
     
    Ich würde alles tun, um mit ihm zusammen laufen zu können. Alles. Ich würde in diesen Stiefeln rennen, wäre der Schmerz nicht unerträglich. Andererseits, was macht es schon, wenn meine Füße anschwellen und bluten? Was spielt das für eine Rolle? Ich bin nicht einmal ein Leichnam. Erstaunlich, dass mir trotzdem noch etwas so wehtun kann; meine Zehen sind in den Spitzen meiner Stiefel eingequetscht, und der Frust treibt mir die Tränen in die Augen, als Alex und ich zusehen, wie Richie unsere Straße hinuntertrottet, um dann in die Straße einzubiegen, die nach Groton Long Point führt. Allein, wenn ich hier so in meinen Stiefeln stehe, weiß ich schon, dass ich unmöglich damit laufen kann. Die Qual wäre unvorstellbar, es würde mich glatt nochmal umbringen. Bloß aufrecht zu stehen, fühlt sich bereits wie Folter an.
    »Was denkst du, warum meine Füße so wehtun?«, frage ich Alex. »Sonst kann ich nirgends Schmerzen spüren.« Es kommt mir seltsam vor, dass wir bis jetzt noch nie darüber gesprochen haben, obwohl der Schmerz allgegenwärtig ist.
    Er blickt auf meine Stiefel. »Ich weiß es nicht. Was denkst du denn?«
    Die Frage frustriert mich; es ist beinahe, als wollte er mich dazu bringen, irgendetwas zu erkennen, aber im Augenblick ist mir nicht nach Ratespielen zumute. »Alex, du bist schon wesentlich länger hier als ich. Falls du irgendwelche Antworten hast, sag’s einfach.«
    Alex zuckt die Schultern. »Die habe ich aber nicht, Liz. Wirklich nicht. Und du hast recht; es ist sonderbar.«
    Ich seufze und drehe mich um, um Richie nachzuschauen. »Alles, was ich tun möchte, ist laufen.«
    »Tatsächlich?« Alex folgt meinem Blick und sieht dann von neuem auf meine Stiefel herab. »Aber das kannst du nicht. Jedenfalls jetzt nicht.«
    Richie hingegen ist frei. Er kann am Strand entlanglaufen, neben den Häusern her, die in ihrer obszönen Dekadenz am Ufer aufragen. In Groton Long Point stehen größtenteils Ferienhäuser, die einfach unglaublich sind. Es gibt Häuser mit Aufzügen. Häuser mit ihrem eigenen Golfplatz. Im Sommer drängen sich in den Auffahrten Mercedes, Ferraris und sogar ein oder zwei Bentleys. Hier leben Menschen, die das Wort »nein« niemals zu hören bekommen. Sie sind meine Nachbarn, die Freunde meiner Eltern. In gewisser Weise war ich ungeachtet des Umstands, dass ich eine Einheimische bin, eine von ihnen. Weil ich es ebenfalls nicht gewohnt war, das Wort »nein« zu hören; vor allem nicht mehr nach dem Tod meiner Mom.
    Doch jetzt ist alles wie ein Nein: Nein, du kannst dich nicht erinnern. Nein, du kannst deine Mutter nicht sehen. Nein, du kannst nicht laufen.
    Richie jedoch kann am kühlen Strand joggen; er kann die salzige Luft atmen und spüren, wie seine Knöchel zittern, während er im Sand nach Halt sucht. Das habe ich selbst hunderte von Malen getan. Da macht es nur Sinn, dass es mir jetzt nicht möglich ist, es zu tun; beim Laufen fühlte ich mich lebendiger als bei allem anderen. Natürlich darf ich dieses Gefühl jetzt, wo ich tot bin, nicht haben.
    Richies Mom beobachtet von der Vordertür aus, wie ihr Sohn am Ende der Straße verschwindet. Ich lasse Alex zurück und folge ihr, als sie nach oben geht, in Richies Zimmer. Einen Moment lang steht sie einfach bloß da. Dann geht sie zum Bett, nimmt eine Ecke der Steppdecke zwischen Daumen und Zeigefinger und studiert sie. Leise – als wüsste sie genau, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte, als würde Richie jeden Augenblick hereinkommen und sie ertappen – durchquert sie den Raum zu seinem Schreibtisch. Sie nimmt ein Foto von mir auf. Sie bedeckt mein Gesicht mit ihrem Daumen, so dass von mir nur mein Haar und mein Körper zu sehen sind. Ich war damals schon nur noch Haut und Knochen, einige Monate, bevor ich starb.
    »Lisa«, murmelt sie. Und sie nimmt ihren Daumen weg, um mein lächelndes Antlitz zu enthüllen. Trotz meiner fröhlichen Miene wirkt meine

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