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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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äußerliche Schönheit irgendwie glanzlos: Mein Haar, obzwar lang und blond, erweist sich bei genauerer Betrachtung als schlaff. Ich habe Schatten unter meinen Augen, von denen ich mir sicher bin, dass sie von einer dicken Schicht Abdeckcreme verdeckt werden. Und da sind meine Knochen, deren Umrisse sich deutlich unter meiner Haut abzeichnen. Der Beinknochen, verbunden mit dem Knieknochen, der Knieknochen, verbunden mit dem Hüftknochen …
    »Was macht sie da?«, fragt Alex.
    Ich erschrecke. Ich wusste nicht, dass er mir gefolgt ist, aber hier steht er, gleich neben mir.
    »Ich weiß es nicht«, sage ich. »Sie schaut sich um.«
    »Wonach sucht sie?«
    Ich schüttle den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn sie anfängt rumzuschnüffeln, wird ihr nicht gefallen, was sie dabei findet.«
    Mrs. Wilson ist vielleicht eine unfähige Mutter, doch sie ist kein schlechter Mensch. Als ich sie jetzt dabei beobachte, wie sie die Bücher auf Richies Regalen anstarrt, jedes mit hunderten von Seiten, alles Informationen, die im Gehirn ihres Sohnes gespeichert sind, über den sie so gut wie gar nichts weiß, empfinde ich ein beinahe atemloses Mitleid mit ihr. Mir wird bewusst, dass ich ihn besser kannte, als sie es vermutlich jemals tun wird.
    Vielleicht kennt sie ihn aber doch besser, als ich dachte. Als ihre Finger die Buchrücken entlangfahren, gelangen sie schließlich zu der übergroßen gebundenen Ausgabe von Große Erwartungen . Dort verharren sie. Sie zieht das Buch langsam aus dem Regal und lässt es in ihren Händen aufklappen. Kann es Zufall sein, dass sie sich ausgerechnet für dieses Buch entschieden hat?
    Der Hohlraum zwischen den Buchdeckeln ist absolut vollgestopft mit Ärger: Tütchen mit Gras, mehrere Röhrchen mit verschreibungspflichtigen Pillen, ein zugeknoteter Plastikbeutel mit einer stattlichen Menge weißen Pulvers und ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Geldbündel. Schau an, Ma! Dein Sohn verkauft Drogen!
    Ich rechne damit, dass sie keucht und weint, dass sie das ganze Zeug an sich nimmt oder ihren Ehemann oder die Polizei anruft oder irgendetwas unternimmt. Doch sie tut nichts dergleichen. Behutsam, mit feinfühligen Fingern, schließt sie das Buch und stellt es an seinen Platz zurück. Sie stellt mein Foto auf dem Schreibtisch wieder ganz genauso hin, wie es vorher war. Dann verlässt sie nahezu lautlos das Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
     
    Als Geister können wir uns mühelos von A nach B bewegen. Auch wenn ich wegen meiner grässlichen Stiefel nicht neben Richie herlaufen kann, erfordert es nur ein paar Blinzler und den bloßen Gedanken an ihn, während Alex mich berührt, um mich zu begleiten. Und schon sind wir wieder an seiner Seite.
    Ich versuche, mich so angestrengt auf ihn zu konzentrieren, wie ich kann, um ihn erkennen zu lassen, dass ich hier bei ihm bin. Richie, ich bin’s , denke ich. Ich bin’s, Liz. Kannst du mich spüren? Weißt du, dass ich hier bin? Ich bemühe mich, mich auf unsere Verbindung zueinander zu besinnen, von der ich weiß, dass es sie gibt. Doch Alex’ Anwesenheit lenkt mich ab. Es ist, als würden die beiden in meinem Verstand einen Moment lang miteinander verschmelzen: Alex, der neben mir steht, und Richie, der jetzt stehenbleibt und seine Ellbogen auf die Knie stützt.
    Ich bin gleich hier. Ich bin bei dir. Kannst du mich fühlen? Ich bin’s, deine Liz. Als ich ihn ansehe, keimt Hoffnung in mir auf: Er wirkt verändert, voller Energie. Sein Gesicht ist gerötet, seine Wangen sind rot, und seine Augen glänzen, als er in die Nachmittagssonne vor sich blickt. Es scheint, als sei er weniger gejoggt als vielmehr gesprintet; wir sind bereits ein gutes Stück von seinem Elternhaus entfernt, auf der anderen Seite der Stadt.
    »Er ist nicht zum Strand gelaufen.« Alex scheint niemals wegen irgendetwas übermäßig enthusiastisch zu sein, doch er klingt noch neutraler als sonst. »Warum ist er hierhergekommen? «
    Er fühlt eine Verbindung. Das muss er. Warum sonst hätte er so unvermittelt anhalten sollen?
    Ich trete näher an Richie heran, so nah, dass ich die Hand ausstrecken und ihn berühren kann. Ich konzentriere mich so sehr, wie ich nur kann, und versuche, mein Bewusstsein von allen anderen Gedanken zu leeren.
    Und dann geschieht es: Ich berühre ihn. Es funktioniert. Als meine Hand auf seinem verschwitzten Rücken ruht, kann ich das Leben spüren, das unter meiner Handfläche pulsiert: warm, klamm, fest. Mein ganzer Arm kribbelt, bis sich

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