Manche Maedchen muessen sterben
würden – so frei.
Beinahe augenblicklich wird deutlich, wo er hinwill. Eigentlich hätte es mir sofort klar sein müssen. Er geht an mehreren Grabsteinreihen vorbei, bis er zu einer frischen Parzelle gelangt, auf der sich Blumen und Teddybären häufen. Mein Grab.
Alex und ich stehen dicht beisammen und beobachten ihn. Lange Zeit sagt oder tut Richie nichts: Er steht bloß im trüben Mondlicht da und starrt auf die Erde. Mein Grabstein wurde noch nicht aufgestellt; Alex zufolge dauert es wenigstens ein paar Wochen, um ihn zu meißeln. Manchmal auch länger, je nachdem, wie aufwändig er ist.
Richie kniet langsam nieder und streicht mit seinen Fingern über die Erde. Er senkt den Kopf und fängt an zu weinen.
»Ich hätte dir verziehen, Liz«, sagt er laut. »Es ist mir gleich, was du getan hast. Ich habe keine Ahnung, warum du das getan hast, ich weiß gar nichts. Aber ich hätte dir verziehen. Das schwöre ich.«
Ich habe Tränen in den Augen. »Es tut mir so leid, Richie«, flüstere ich. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich liebe dich.«
Alex blickt mich an. »Das tust du wirklich«, sagt er.
»Was tue ich wirklich?«
»Du liebst ihn wirklich.«
Ich nicke. »Ja. Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt. Alex, ich weiß nicht, was hier vorgeht oder warum du und ich zusammen hier sind. Aber als ich meinen Dad dort sah, in meinem alten Zimmer, erinnerte ich mich an etwas. Alex, ich war mal anders. Das musst du mir nicht glauben, aber es ist wahr. Ich war bloß ein ganz normales Mädchen, und dann starb meine Mom, und danach war alles anders. Es ist beinahe, als … als hätte ich geglaubt, dass das, was meiner Mom widerfahren ist, nicht mehr so entsetzlich wehtun würde, wenn ich hübsch und schlank und beliebt bin, wenn ich mich mit Leuten umgebe, die mich mögen, wenn ich alles kontrolliere, was in meiner Welt passiert. Und mein Dad war bereit, alles zu tun, um zu verhindern, dass ich leide. Das hat mich oberflächlich werden lassen, so viel verstehe ich jetzt. Alex, du musst mir glauben, dass es mir leidtut, wie wir alle dich behandelt haben … dass ich dich ignoriert habe. Und auch, wie wir mit anderen Leuten umgegangen sind, mit Leuten wie Frank Wainscott. Es tut mir leid, dass die Dinge in der Schule so hart für dich waren. Wenn ich zurückgehen und ändern könnte, was geschehen ist …«
»Das kannst du aber nicht«, sagt er schlicht. Er klingt weder zornig noch mitleidig. Vielleicht ein bisschen bedauernd, doch im Großen und Ganzen ist sein Tonfall sachlich. »Für uns ist es vorbei.«
Ich schaue Richie an. »Für ihn ist es nicht vorbei.«
Mein Freund kniet lange Zeit da. Dann legt er sich ganz bewusst auf mein Grab. Das Gras unter ihm ist jung und mickrig; es hat auf meinem frisch zugeschütteten Grab kaum zu sprießen begonnen.
Richie legt sich auf die Seite. Er liegt oben auf meinem Leichnam, der dort unten in der Erde ruht, und schließt die Augen.
Ich gehe zu ihm. Ich lege mich neben ihn und schlinge meine Arme um seinen Körper. Als sich meine Seemannsbeine wieder einmal zu Wort melden, scheint der Boden leicht zu schwanken. Wie beim letzten Mal kann ich Richie fühlen, als ich mich fest konzentriere. Aber gleichzeitig ist es auch anders als zuvor, vor Alex’ Elternhaus. Unsere Verbindung wird nicht mehr unerträglich heiß, so dass ich gezwungen bin, mich nach einigen Sekunden zurückzuziehen. Ich bin begeistert, als ich merke, dass ich Richie dieses Mal tatsächlich festhalten kann. Das Gefühl ist über alle Maßen wundervoll. So lebendig habe ich mich seit meinem Tod noch nie gefühlt. Während wir zusammen daliegen, wird mir klar, dass ich ihn fast genauso im Arm halte wie vor etwas über einem Jahr, als er krank im Bett lag. Und obwohl Richie nicht erkennen lässt, dass er mich ebenfalls spüren kann, lässt mich das Gefühl seines lockigen Haars an meinem Gesicht, seiner Kleider unter meinen Händen beinahe schwindeln. Ich kann seinen Atem fühlen. Ich kann sein Herz schlagen hören, spüre die Kühle der klammen Erde unter uns.
So liegt er da, bis er einschläft; schließlich wird seine Atmung tief und gleichmäßig. Er bleibt die ganze Nacht über hier, bis am Horizont die ersten Sonnenstrahlen auftauchen. Und ich bleibe bei ihm, während Alex uns beide wortlos betrachtet – uns betrachtet und begreift, dass ich vielleicht doch nicht immer dieser Alptraum von einem Individuum war, für den er mich hält. Vielleicht nicht.
Richie schläft, aber ich nicht. Ich bleibe
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