Manche Maedchen raechen sich
umdrehte, sah ich, dass Neil schon weit vorausgelaufen war. Ich atmete aus und rannte ihm hinterher.
Im Garten unter der Linde stand der winzigste Grabstein, den ich je gesehen hatte.
„Den hab ich aus Dallas mitgebracht. Ich muss da unbedingt noch mal hin und einen für Ratte B besorgen. In Amerika kriegst du echt alles.“
„Alles?“
„Okay, fast alles.“
Ich drehte mich um. Neil stand direkt hinter mir. Er roch vertraut, irgendwie nach Bastelpapier, nach Kleber, nach rotem Hustensaft, nach Kunststoffponys in Regenbogenfarben.
„Hm. Wie war’s denn eigentlich im Museum für Verschwörungstheorien?“, fragte ich und rührte mich keinen Millimeter.
„Im Sixth Floor Museum .“
„Meinetwegen. Haben sie dort die Waffe, mit der John F. Kennedy erschossen wurde?“
„Nein, leider nicht. Ich glaube, die ist immer noch bei der Polizei. Aber dafür habe ich durch das Fenster gesehen, an dem Lee Harvey Oswald stand, als er den Präsidenten erschossen hat. Total abgefahren. Und ich hab mir ein kleines Andenken mitgebracht. Das wird dir bestimmt gefallen.“
Er griff in seine Schultasche und zog etwas heraus.
„Ach du Scheiße!“
„Na los, nimm schon.“
„Sicher?“
„Keine Angst. Sie funktioniert nicht.“
Ich wog den Revolver in der Hand. Er war schwerer, als ich gedacht hätte.
In meinem Kopf überschlugen sich die Fragen. Warum hatte Neil eine Waffe? Und wie hatte er sie durch den Zoll geschmuggelt?
„Das ist ein alter Colt Cobra. Mit so einem Ding hat Jack Ruby Oswald erschossen. Ich bin gerade dabei, ihn zu reparieren.“
Ich gab Neil den Revolver zurück und spürte einen Hauch von Enttäuschung. Meine Hand fühlte sich plötzlich so unnatürlich leicht an. So leer.
„Und wann willst du wieder nach Amerika?“
„Wenn die Prüfungen vorbei sind. Dann geht’s nach New York. Ich will unbedingt zum Central Park. Mal sehen, ob ich die Strawberry Fields finde.“
„Die Gedenkstätte für John Lennon! Ich hab gehört, die findet man am schnellstem, wenn man zuerst nach den Dakota-Apartments Ausschau hält. Du weißt schon, das Gebäude, vor dem John Lennon erschossen wurde. Und auf der gegenüberliegenden Seit e …“
Wenn ich mich nicht täuschte, dann lag in Neils Augen in diesem Moment dieselbe brennende Sehnsucht, die ich immer verspürte, wenn ich an längst vergangene Zeiten dachte oder an den Sommer.
„Ich habe überlegt, ob ich diesmal ohne meine Eltern fahre.“
Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich mich und Neil im Sonnenschein spazieren gehen. Wir betrachten ein Mosaik auf dem Boden, in dem das Wort Imagine geschrieben steht. Ich esse eine riesige Brezel. Doch dann holte mich die Realität wieder ein. Ich habe mit offenen Augen geträumt. In vielerlei Hinsicht.
„Du musst nur die West 72n d Street finden. Du kennst doch das Straßensystem in den USA, oder?“, sagte ich hastig. „Und wo diese Straße Central Park West kreuz t … Schickst du mir eine Postkarte, wenn ich dich ganz lieb darum bitte?“
„Du machst mich noch mal wahnsinnig, Elle“, sagte Neil. „Aber wenn du nicht so verdammt kompliziert wärst, wäre es ja auch langweilig.“
„Nein, ich erzähle nichts mehr“, sage ich zu Dr . Fadden. „Es ist grün. Schauen Sie lieber auf die Straße.“
Jetzt ist Schluss. Ich werde nichts mehr erzählen. Nicht von Neil. Und dem Doktor schon gar nicht. Niemandem. Auf dem Weg zurück zur Wache sagen wir kein Wort.
zehn
Als Lexi wieder zur Schule kam, schien ich die Einzige zu sein, die sich darum Gedanken machte. Ihr Vater brachte sie in seinem glänzenden, silbernen Lexus. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Ich hatte sie seit dem Montag nach der Party nicht mehr gesehen.
Weil niemand Lexis Vater sagen konnte, was mit seiner Tochter los war, hatte er sie zu einem Spezialisten nach Sydney gebracht. Lexi und ich telefonierten jeden Abend und Lexi erzählte mir von ihrer Diät und von den homöopathischen Mitteln, die sie einnehmen musste. Ihr ginge es gut, sie sei nur müde.
„Oh Mann, jetzt einen Cheeseburger und eine Portion Pommes“, seufzte Lexi in den Hörer und wir lachten, obwohl es gar nicht lustig war.
Ich hatte mich darauf eingestellt, dass Lexi blass und mager aussehen würde. Immerhin hatte sie ein paar harte Wochen hinter sich. Ich wollte sie direkt am Auto in Empfang nehmen, damit ich ihr heraushelfen und sie stützen konnte, falls es nötig war.
Doch zu meiner Überraschung sah Lexi vollkommen normal aus. Und das war schlimmer als
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