Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte

Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte

Titel: Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Federlein
Vom Netzwerk:
hätte, glaube ich, damals auch nicht funktioniert. Die ersten Tage war ich zu zweit mit einem anderen Mädchen im Zimmer. Wir haben uns super verstanden und wir waren hoch motiviert. Drei Tage habe ich durchgehalten, habe mich, weil ich mal wieder allen alles recht machen wollte, brav an alles gehalten, aber mehr ging nicht. Meine Fressgier war zu stark, mein Willen vielleicht einfach zu schwach. Jedenfalls hätte ich alles abgebrochen, wenn ich nicht ab und zu mal hätte fressen und kotzen dürfen. Für die Therapeuten war es ok, wir sollten nur offen darüber reden, in unseren Gruppen oder im Einzelgespräch. So lange wir ehrlich und offen darüber redeten, meinten sie, wäre es auf jeden Fall ein Fortschritt. Das erste Ziel war also, raus aus der Heimlichkeit, offen zu sich und seinen Fehlern und Süchten stehen und aufzuhören, sich ständig schuldig und schlecht zu fühlen, weil das der Einstieg zum nächsten Rückfall ist.
    Dieser Ansatz war anders, ansonsten war vieles gleich geblieben. Die Therapiesitzungen mit den Gruppen, Musiktherapie, Gestaltungstherapie, Autogenes Training, Vollversammlung und Patientenforum. All das war mir bekannt, sogar einige Schwestern und der Pfleger Paul waren noch da. Erst hatte ich mich geschämt, zugeben zu müssen, dass ich es eben nicht geschafft hatte, aber alle waren so liebevoll und hatten so viel Verständnis, dass ich mir vorkam, wie zurück bei meiner Familie zu sein.
    So verliefen die ersten Wochen gut, mit Rückschlägen und neuen Erkenntnissen, allerdings ging es lange nicht mehr so stark darum, warum alles so gekommen war, sondern viel mehr darum, wie ich mit hier und heute mit meinem Leben wieder klar kommen würde.
    Vielleicht war es aber auch anders, weil ich nicht die ersten vier Wochen in Klausur verbringen musste. Damals hatte ich so viel Zeit zum Schreiben und Nachdenken gehabt, diesmal waren die Tage voll verplant mit Sitzung und Aktivitäten, da kam ich nicht so sehr dazu, über mich und mein Leben zu grübeln. Viel mehr ging es für mich darum, was jeden Tag so an Gefühlen da war, aufzuarbeiten. Und die Gemeinschaft bot alle Arten von Konflikten, die man im realen Leben auch geboten bekam! Streit, Eifersucht, Liebe, Wut, Lästereien, Neid, alles war da und konnte im Gegensatz zu draußen, wo man kaum Chancen bekam, sich dagegen zu wehren, hier gleich vor Ort bearbeitet werden.
    Ich hatte dann doch einige Probleme mit meiner Mitbewohnerin, weil sie noch nicht mal den Versuch startete, mit dem Kotzen aufzuhören, was es für mich super schwer machte, bei mir zu bleiben und nicht einfach wieder mitzumachen. Also habe ich in meiner Gruppe darüber geredet und wir haben versucht, damit zu arbeiten. Dieses Thema wurde dann sozusagen ausgeweitet auf meine fehlende Fähigkeit, für mich zu sorgen, weil ich mich auch hier solchen Dingen viel zu lange schweigend und still leidend ausgesetzt hatte, anstatt etwas zu unternehmen. Meine Unfähigkeit, Menschen anzusprechen und sie auf Fehlverhalten anzusprechen aus lauter Angst, dann nicht mehr gemocht zu werden, war lange Thema bei uns. So vielen ging es ähnlich. Oder wie geht man damit um, wenn ein Anderer schlecht über dich redet? Da muss man erst mal nachfühlen, wie weh das eigentlich tut, dann sollte man das ganze auch aussprechen und den Anderen auch ruhig damit konfrontieren. Nicht alles einfach runter schlucken... irgendwann ist der Gefühlsmülleimer dann so voll, dass man ihn wieder mit Kotzen leeren will!
    So konnten wir, die wir alle so unterschiedlich waren und doch in einem gleich, nämlich unfähig, unser Leben zu leben, uns gegenseitig helfen, vorwärts zu kommen, auf dem Weg raus aus der Sucht.
    Ich habe wieder gelernt, dass man statt Essen auch mal rausgehen kann und wie wunderbar ein Spaziergang sein kann. Dass eine Umarmung gut tut, dass ich sie zulassen darf und vor allem, dass ich ein liebenswertes Wesen bin, nicht nur wenn ich die Beine breit mache.
    Dass meine Ideen zum Leben nicht falsch, sondern nur anders sind, dass ich nicht funktionieren muss, um geliebt zu werden.
    Das alles hört sich selbstverständlich an, aber uns in der Klinik waren diese Dinge so fremd. Erwachsene Männer, die sich bei mir im Arm ausgeweint haben, weil sie zum ersten Mal losgelassen haben und auch mal Schwäche zeigen konnten, junge Mädchen die wieder lachen können, weil die Schuld und der Ärger, den sie draußen jedem bereitet hatten, endlich von ihnen abgefallen ist. Hier in unserer geschützten Zone konnten

Weitere Kostenlose Bücher