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Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte

Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte

Titel: Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Federlein
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Sicherheitspersonal vor der Tür. Ich war endlich vor mir selber geschützt. Genau da wollte ich sein, ohne Verantwortung, ohne Erwartungen, die an mich gestellt wurden, ich musste nur selber aufs Klo, alles andere wurde mir abgenommen. Sie sagten wann essen war, wann Schlafenszeit war und den Rest der Zeit saß ich einfach nur rum.
    Ich war tot, komplett, da war keinerlei Regung mehr in mir. In dem Moment, als ich durch die gesicherte Tür in die geschlossene Abteilung gegangen bin, gab es mich nicht mehr. Ich fühlte mich wie das Nichts, vor dem ich die ganze Zeit weggelaufen war. Ich hatte keine Bedürfnisse mehr, keinen Durst, keinen Hunger, keine Fressgier, keine Gefühle, das war alles weg. Wie eine Puppe hab ich mich in den Aufenthaltsraum bringen lassen und da saß ich, bis sie mich zum Essen gebracht haben. Mehr weiß ich nicht mehr von diesen ersten Tagen, ich habe sogar aufgehört zu denken!
    Ich war auf dem Grund meiner tiefen Traurigkeit und Angst, ich habe mich einfach fallen lassen. Und das ist gut gegangen, weil ich in Sicherheit war, weil die Krankenschwestern auf mich aufgepasst haben.

Depression:
     
    Ich bin unter Wasser, aber die Flüssigkeit ist viel zäher als Wasser, manchmal fühlt es sich auch an wie Treibsand. Ich werde nach unten gezogen, als hätte ich einen Stein an den Füßen. Ich schaue nach oben, kann über mir die Wasseroberfläche noch sehen. Da ist es hell, die Sonne scheint, dort ist das Leben, die Freude, die Energie. Aber da wo ich bin ist nur Dunkelheit, Trägheit, Energielosigkeit und Stille...
    Ich werde immer weiter nach unten gezogen. Ich habe keine Kraft, nach oben zu schwimmen. Ich will mich auch nicht wehren, das ist so anstrengend. Also lasse ich mich weiter fallen. Mit einer letzten verzweifelten Geste strecke ich meinen rechten Arm nach oben, in der Hoffnung, dass mich Einer dort sieht und mich herauszieht, aber da ist niemand. Manchmal schaffe ich es, wieder umzukehren, mich zu befreien und mit aller Kraft nach oben zu strampeln, bevor ich auf dem Grund aufkomme. Dann schwimme ich wie eine Wilde und tauche auf. Dort erwartet mich das Licht und die pure Lust am Leben umfängt mich, lässt mich strahlen und durchflutet mich mit Energie. Bis ich in ein paar Tagen wieder versinke.
    Heute nicht. Heute falle ich ins Bodenlose, immer weiter herunter in die Schwärze des Abgrunds. Ich bin so allein, so traurig, so furchtbar müde. Müde vom Kämpfen, vom Leben an sich.
    Ich sinke bis auf den Boden, sehe das Licht an der Oberfläche nicht mehr und bleibe einfach still und leblos liegen...

Erst am dritten Tag, nach der zweiten Nacht, bin ich ganz langsam aus meinem Loch gekrochen. Wir saßen beim Essen und einer der Patienten schob mir sein Essen rüber. Er meinte: „Kannst du haben, meine Freundin hat auch Bulimie, ich weiß wie es dir geht!“ Das war das liebevollste und Schönste, was ich bisher erlebt habe. Hier, am Ende der Nahrungskette, wo die Fertigsten der Fertigen sitzen, diejenigen, die am Leben gescheitert sind, ausgerechnet hier erlebe ich diese Menschlichkeit? Das war so lieb und hat mich aufgerüttelt. Keine Ahnung, was ich dann gesagt habe, ich weiß nur, dass ich sein Essen gegessen habe und dann zum Kotzen gegangen bin. Und dann wurde es besser. Man kann also sagen, ich habe mich zurück ins Leben gekotzt. Da war wenigstens ein Trieb, ein Bedürfnis, eine bekannte Seite an mir, und ich habe wenigstens etwas gespürt. Danach ging es mir langsam besser. Ich war viel mit diesem Patienten draußen auf der Terrasse und wir haben geredet, stundenlang. Ganz langsam kam ich wieder zu mir, wie aus einer Narkose erwacht, Stück für Stück und verdammt vorsichtig, aber ich bin die Stufen eine nach der anderen wieder heraufgeklettert.
    Dann kamen meine Eltern! Ich hatte sie nicht hergebeten und ich hätte ihnen diesen Anblick gerne erspart. Was sollte ich ihnen auch sagen? Was erklärt man seinen Eltern, wenn man nicht mehr leben wollte und in einer geschlossen Psychiatrie gelandet ist? Eltern, die immer nur das Beste wollten und völlig hilflos einer Krankheit gegenüberstehen, die schon für mich selber als Betroffene nicht zu verstehen ist? Ich glaube diese Begegnung hat damals für uns alle tiefe Narben hinterlassen. Aber ich war nicht mehr in der Lage, etwas zu erklären und schon gar nicht, irgendetwas zu beschönigen. Ich hatte keine Maske mehr auf, ich hatte auch keine Kraft mehr, etwas vorzuspielen. Ich saß nur da und meinte, das bin ich, schaut mich an,

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