Manchmal ist das Leben echt zum Kotzen - Wie ich meine Essstörung besiegte
so seh ich aus, ohne Maske, ohne Versteck spielen. So ist eure Tochter.
Auch das war, glaub ich, wichtig, auch wenn es in dem Moment die Hölle war. Meine Eltern so enttäuschen zu müssen. Wie viel Kraft hatte ich all die Jahre dafür aufgebracht, mich zu verstellen, zu täuschen, zu beschönigen, um ihnen das zu ersparen. Denn das ist, was ich fühle. Das bin ich. Und damit muss ich erst mal klar kommen. Nicht die fleißige, erfolgreiche, ehrgeizige, liebe, nette verständnisvolle Tochter oder Frau, nein, ein Stück Elend, unfähig zu leben, zu essen, zu arbeiten, zu funktionieren. Ich habe das in diesen Tagen erkannt, ich hatte so Angst davor, mir das einzugestehen, bin immer davor weggerannt, aber jetzt hab ich das ganz klar gesehen. Ich hab jede Hülle fallen gelassen und habe mich angeschaut. Da war nicht viel, aber immerhin war es genug, dass ein Mensch mir sein Essen gegeben hat und sich jetzt hier mit mir unterhielt. Immerhin. Darauf hab ich aufgebaut. Und als der Psychiater mich dann am vierten Tag gefragt hat, ob ich mich immer noch umbringen will, hab ich „nein“ gesagt. Und ich meinte es auch so.
Wobei ich die Frage schon ziemlich dämlich fand, was ich ihm auch gesagt habe, schließlich würde ich hier ja wohl kaum die Wahrheit sagen, wenn ich das nach wie vor machen wollte. Aber mir war klar, wenn mich so einer schon wieder aufregt, dann bin ich definitiv wieder auf dem Weg der Besserung!
Und dann durfte ich gehen. Und ich wollte auch gehen. Und jetzt bin ich wieder hier!
Nichts hat sich geändert, ich weiß immer noch nicht, wie es weitergehen soll, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich fress und kotz wie ein Weltmeister, aber ich habe mich geändert. Ich habe mich angenommen, ich bin jetzt an dem Punkt, wo ich mir sage, das was da war ist so schrecklich gewesen und ich habe es überlebt. Allein wieder etwas zu spüren und sei es nur die Lust auf Essen, ist viel besser als das, was die Tage mit mir los war. Ich seh mich selber anders und fang von ganz unten an.
Und es ist schon komisch: Damals zu Hause in der Badewanne hat mich das, was mich erst so fertig gemacht hat, nämlich der Gedanke an Thomas, aber auch wieder ins Leben gebracht. Jetzt ist es ähnlich: Fressen und Kotzen hat mich zwar bis nach ganz unten gebracht, hat mich aber dann auch wieder am Leben gehalten. Wenn ich noch nicht weiß, wer ich eigentlich bin oder was ich eigentlich ohne meine Krankheit machen möchte, dann ist es besser, noch so lange damit weiter zu machen, bis ich einen Ersatz habe. Es ist wie beim Entrümpeln. Du ziehst alles aus dem Schrank, schmeißt alles weg, was du nicht mehr brauchst und stellst nur das zurück, was dir immer noch gefällt. Aber ein Regal leer lassen ist einfacher, als eine Seele und solange ich noch nichts habe, was ich bei mir reinstellen möchte, lass ich erst mal fressen und kotzen drin, vielleicht kann ich das später einmal entsorgen, wenn mein Regal mit anderen Dingen gefüllt ist.
Nach meiner Ankunft waren alle sehr lieb zu mir, mit Einigen habe ich geredet, und es war schön, wieder zu Hause zu sein. Ansonsten ging es so weiter wie vorher, ich machte meine Gruppen, ich verlängerte meinen Aufenthalt auf fünf Monate und gab mir Mühe, mich auf die Therapie einzulassen. Aber die Zimmer-Fressanfälle gingen weiter.
Nach dem Frühstück schaffte ich es noch in der halben Stunde, die mir blieb, einen Mini-Fressanfall einzubauen. Wir haben uns unten am Buffet einfach zwei drei Brötchen mitgenommen und Müsli und dann oben weiter gegessen. Nach dem Mittagessen war es schwieriger, da konnte man nichts mitnehmen, also gingen wir oft gar nicht hin, sondern liefen durch den Kurpark in die Stadt, um für den Nachmittag Essen zu kaufen. Beim Abendessen lief es dann wie beim Frühstück.
Einmal sind wir auf dem Rückweg von einer der Therapeuten erwischt worden und vor lauter Schreck haben wir das ganze Essen schnell in den Parkmülleimer geschmissen. Der Therapeut hat nichts gesagt, aber uns war klar, wir mussten das jetzt von uns aus in der Gruppe ansprechen, sonst gäbe es Ärger. Aber es war auch mal wieder ein Warnschuss gewesen, nach wochenlangem Hingeben in die Sucht haben wir mal wieder kapiert, wo wir da waren und dass wir ja eigentlich damit aufhören wollten. Also hatten wir beschlossen, heute nicht mehr zu kotzen. Aber wir haben es nicht geschafft. Am Abend sind wir tatsächlich zurück zum Mülleimer und haben vor den Augen aller Kurgäste unser Essen aus dem
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