Manhattan Blues
man in New York ist, dachte Walter, wenn man einem
Burschen zehn Dollar Trinkgeld gibt, und er einem unterstellt, daß man billig
ist.
»Nur den Zettel, bitte«, sagte er.
Es war nur ein kurzer Weg zum Büro, und die Bewegung half seinem
schmerzenden Rücken und den Beinen, so daß er beschloß weiter zu laufen. Durch
die Wolkenkratzer-Canyons von Midtown, wo in seiner Jugend elegante Klinkerhäuser
gestanden hatten.
Die Stadt, wie er sie gekannt hatte, begann allmählich zu
verschwinden. Le Ruban Bleu, einst das Stammlokal von Leuten wie Cole Porter,
Moss Hart, Noel Coward und Marlene Dietrich, war längst abgerissen worden und
dem antiseptischen Corning Glass Building gewichen. Das Downstairs at the
Upstairs war zerstört worden, um Platz für das Time/Life Building zu schaffen.
Die gesamte magische Insel verschwand, um durch Namen von Großunternehmen
ersetzt zu werden. Kalte, riesige Kästen aus Glas und Stahl, in denen die
Drohnen mit den Button-Down-Hemden und dem Bürstenhaarschnitt schufteten, bis
sie zu ihren Vorortszügen marschierten, um sich im Fernsehen diese
Westernshows anzusehen und von Freiheit zu träumen. Die Park Avenue, einst ein
Boulevard voller Wärme und Eleganz, jetzt eine Reihe von Monstrositäten Mies
van der Rohes, von Gebäuden aus Glas, in denen sich andere Gebäude aus Glas
spiegelten.
Als er wieder an seinem Schreibtisch saß, fand er einen Stapel von
Mitteilungen über Anrufe vor: Madeleine Keneally, Jo Keneally, Anne Blanchard
und Dieter König. Der Anruf, der ihn im Augenblick wirklich interessierte, war
nur der von Dieter König, denn unter anderem war es eine Einladung zum Lunch,
die überdies verschlüsselt war.
Nur Dieter, dachte Walter, würde so dringend um ein Treffen im Russian
Tea Room bitten.
Dieter saß schon an seinem Tisch, als Walter ankam. Der deutsche
Zuhälter sah fast sittsam aus, wie er sehr gerade dasaß und die Hände auf dem
weißen Tischtuch gefaltet hielt. Sein blondes Haar war glatt zurückgekämmt. Er
trug einen holzkohlengrauen, zweireihigen Anzug mit feinen Nadelstreifen und
eine blaue Seidenkrawatte.
»Dies ist sehr schön«, sagte Walter, als er sich auf seinen Stuhl
setzte und die Beine unter dem langen weißen Tischtuch ausstreckte. »Aber sehr
extravagant.«
»Es ist schon zu lange her, daß wir wirklich gut zusammen gegessen
haben«, erwiderte Dieter.
Seine Stimme hatte ihr gewohntes elegantes Timbre, doch da war noch
ein leichtes Zittern, das auf etwas anderes hindeutete. Nerven? Traurigkeit?
Walter sagte: »Nun, es ist sehr schön.«
»Gut leben, gut sterben.«
Dies wurde gesagt, als der Kellner an den Tisch trat und mit der
Bestellung von zwei Martinis weggeschickt wurde. Es folgten frische
Lachsscheiben, gekühlte Gurkensuppe, scharfe, mit Pfeffer gewürzte Schnecken in
einer Sauce, die so undurchsichtig wie köstlich war, junge Kartoffeln... alles
serviert und verzehrt inmitten der angenehmen Lärmkulisse eines überfüllten
Restaurants. Das Klirren von Gläsern, das Klappern von Porzellan und
Tafelsilber, die eiligen Schritte gehetzter Kellner, das laute Flüstern über
Buch- und Bühnenverträge, das fröhliche Geplapper über Einkaufs-Expeditionen,
die sotto voce gesprochenen Beobachtungen
darüber, wer mit wem gesehen wurde. Für Walter und Dieter war die Konversation
angestrengt entspannt. Dieter hatte etwas zu sagen, war aber noch nicht bereit,
es zu äußern, und die Höflichkeit mußte gewahrt werden, und so sprachen sie
über das Theater, Willy Brandt, Castro, Pier Angeli, das hervorragende Essen, Doktor
Schiwago, über ihre jeweiligen Tenniskünste, und dann kam der
Kaffee. Walter bot Zigaretten an, und Dieter sagte beiläufig: »Ich bin heute
morgen beim Arzt gewesen.«
»Oh?«
Walter wurde übel. Es war ein scheußliches Gefühl tief im Magen.
»Ein Jude«, sagte Dieter, »aber...“
»... der beste.« Dieter nickte.
»Keine guten Neuigkeiten«, sagte er.
Walter hatte plötzlich das Gefühl, als müßte er gleich losweinen. Wie
er jetzt diesem zartgliedrigen Luden gegenübersaß, spürte er, daß ihm die
Tränen in die Augen traten, als ihm aufging, daß Dieter ihn nur hergebeten
hatte, um ihn darüber zu informieren, daß er den Tod vor sich sah. Er hatte ihn
nur deshalb zu diesem ... Abschiedsessen gebeten.
»Dieter, falls ich etwas für Sie tun kann...«
»Von Zeit zu Zeit ein Gebet.«
»Jeden Tag.«
»Was wissen Ärzte schon?“
»Sie sind fehlbar.«
Die Rechnung kam. Walter machte keinerlei Anstalten,
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