Manhattan Blues
Geschäft - angefangen bei den Stadtvätern bis
hin zum Mob, von den Cops bis zu den Süchtigen selbst. Ein vernünftiges
Arrangement, dachte Walter, als er sich auf eine Bank neben einen weiblichen
Junkie setzte, deren Gleichgültigkeit gegenüber ihrem neuen Nachbarn total
war. Obwohl er in seinem schweren Mantel, dem grauen Filzhut mit der feschen
roten Feder und seinen blankpolierten Schuhen tatsächlich ein wenig fehl am
Platz wirkte. Doch Heroinsüchtige sind eine demokratische Truppe, denen
Unterschiede der Klasse, der Rasse oder des Geschlechts nichts ausmachen. Dazu
sind ihre Augen viel zu fest auf den Himmel gerichtet.
Aber nicht die von Walter. Sein Blick war auf die andere Seite des
Broadway gerichtet, die Westseite der Straße, auf den zweiten Stock eines
gewaltigen gelben Klinkergebäudes, wo es auf einem Schild in einem der
deckenhohen Fenster hieß: Ansonia Studios . Dort hatte Walter zum ersten Mal
seit vielen Tagen Glück, denn die Fenster gewährten großzügigerweise einen
fast vollständigen Einblick. Ein drahtiger, muskulöser junger Mann tanzte in
einem schwarzen Trikot zusammen mit einem runden Dutzend weiterer drahtiger,
muskulöser junger Männer nach einem anstrengenden und synchronisierten Takt
über einen blankpolierten Holzfußboden.
Es war der junge Mann, der ihn am Sonnabend in der Bar herausgefordert
hatte, der Mann, der bei der Erwähnung Michael Howards so zornig reagiert hatte.
Ein junger Mann, der erst noch lernen mußte, daß man alles verbergen muß, wenn
man etwas zu verbergen hat. Und daß man deshalb keine Gymnastikbeutel mit sich
herumtragen darf, die den Ort verraten, an dem man sich vermutlich aufhält.
Er ist schön, dachte Walter, als er sah, wie der Mann sich mit geübter
Anmut bewegte, und wenn die Scharniere an meiner Tür so angeschlagen wären,
würde sie zu diesem jungen Tänzer hin schwingen.
Doch dafür konnte Walter Withers fröhlich drei Fred-Astaire-Filme
hintereinander ansehen. Er liebte das Ballett. Er hielt den Tanz für eine
seltene Mischung aus Athletik und Kunst und hielt die Mischung für bezaubernd.
Was er auch an diesem kalten Dezembermorgen tat, als er mit den
Junkies auf einer Bank kauerte und durch die Fenster das Training der Tänzer
beobachtete. Er konnte weder die Musik noch das rhythmische Bellen des
Tanzlehrers hören, sah aber dennoch alles in den Bewegungen der Tänzer. Er sah
den glitzernden Schweiß auf den Gesichtern und den nackten Armen, ein stummes Zeugnis
der Anstrengung, die nötig ist, um etwas mühelos erscheinen zu lassen.
Der Junge war stark, wie Walter beobachtete. Er hatte die langen
Schultermuskeln und den breiten Brustkorb des Tänzers. Bei einem Zweikampf
würde mit ihm nicht gut Kirschen essen sein, und Walter nahm sich vor,
reichlich Distanz zu halten, wenn er - was er unvermeidlich tun würde — ihm zu
seinem nächsten Termin folgte.
Zum Winter Garden, wie sich herausstellte, und Walter war auch nicht
überrascht — nur ein wenig entsetzt —, daß der Junge die siebenundzwanzig
Blocks zum Theater zu Fuß gehen wollte. Walters Fußknöchel war noch unsicher
und empfindlich, und es konnte keine Rede davon sein, daß er den Jungen auf
Distanz ließ, sondern er mußte sich mächtig anstrengen, um auf Sichtweite zu
bleiben. Walter schwor, mindestens dreimal in der Woche Tennis zu spielen und
weniger zu trinken, wenn dies erst einmal vorbei war.
Der Winter Garden war natürlich an einem späten Montagmorgen dunkel,
doch an der Kasse stand eine lange Schlange, weil die West Side
Story ein riesiger Erfolg war. Und als der Junge das Haus durch
den Bühneneingang betrat, fragte sich Walter, ob er einen Jet oder einen Shark
spielte, und kam zu dem Schluß, daß der Haarschnitt ihn von Kopf bis Fuß zu
einem Jet machte.
Walter wartete etwa eine Minute und näherte sich dann dem Pförtner am
Bühneneingang.
Der Pförtner nahm den Zigarrenstummel aus dem Mund und grunzte: »Dies
ist der Bühneneingang.«
»Wie recht Sie haben«, erwiderte Walter und nahm eine Fünfdollarnote
aus der Tasche. »Ein junger Mann ist gerade hineingegangen, und ich würde gern
seinen Namen erfahren.«
Der sich als Tony Cernelli herausstellte.
Walter zog seinen Notizblock und den Kugelschreiber heraus, kritzelte
schnell etwas hin, befestigte die Notiz an einem weiteren Fünfer und bat den
Pförtner, beides für ihn zu übergeben.
Der Pförtner steckte den Geldschein in die Tasche und fragte: »Keine
Blume oder so was?«
Man weiß, daß
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