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Manhattan Blues

Manhattan Blues

Titel: Manhattan Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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Ich nannte sie eine Hure und eine ordinäre Herumtreiberin
und sagte, sie sei für Joe nichts weiter als eine öffentliche Bedürfnisanstalt,
und es gebe noch Dutzende andere. Ich habe meine Position als
Ehefrau genutzt, Walter, der man ein Unrecht angetan hat, meine Position als
anständige junge Dame. Das habe ich gesagt, Walter.
Ich sagte, er werde nie eine Hure wie sie heiraten, und fragte sie, warum sie
ihn nicht einfach ziehen lasse. Worauf sie sagte: >Das habe ich.< Das war
alles. >Das habe ich<, und dann krabbelte sie wieder aufs Bett, rollte
sich zusammen und starrte die Wand an.«
    Madeleine verstummte, und Walter saß reglos da wie ein Standbild.
    »Ich habe die Flasche gefunden«, flüsterte Madeleine mit tonloser und
toter Stimme. Gehetzt. »Ich habe die Pillen gesehen. Ich wußte, was passieren
würde.«
    Walter lauschte in der schweren Stille dem Ticken einer antiken Uhr.
Sie schien ewig weiterzuticken.
    Schließlich sagte Madeleine: »Ich stand einfach nur da. Ich hätte
einen Arzt holen können. Ich hätte den Empfang anrufen können. Ich stand nur da
und dachte: >Sie wird sterben. Sie wird eine Überdosis nehmen und
sterben.< Und nach ein paar Minuten bin ich gegangen. Ich habe sie so liegen
lassen.«
    »Madeleine...«
    Sie sah ihm jetzt in die Augen. Ihre Augen waren gerötet und voller
Tränen.
    »Ich fühle mich erleichtert, Walter«, sagte sie. »Gott möge mir
vergeben, aber ich fühle mich erleichtert.«
    Dann begann sie laut zu weinen. Mit heftigen stummen Schluchzern und
schwer atmend, während sie die Arme um sich schlang.
    Walter ließ sie weinen, und als sie fertig war, kniete er neben ihr
nieder. Er reichte ihr ein Papiertaschentuch, und während sie sich damit die
Augen abtupfte, sagte er: »Sie hatten nichts mit Martas Tod zu tun. Nichts.«
    Sie sah ihn neugierig an und fragte: »Wie...«
    Er legte einen Finger an die Lippen und sagte: »Ich wollte nur, daß
Sie das wissen.«
    Er stand auf, küßte sie auf den Scheitel und ging.
     
    Nein, dachte Walter, als er die Frau auf dem zerwühlten Bett musterte,
Madeleine Keneally sah nicht schrecklich aus - Mary Dietz tut es. Ihre Haut,
die noch vor wenigen Tagen durchsichtig war, sah jetzt gelb aus, nur dort
nicht, wo sie unter den scharfen Umrissen ihrer Wangenknochen grau wirkte. Ihre
Lippen preßten sich eng an die Zähne, und als er ihr den Speichel vom Mund
wischte, konnte er den Gestank der Krankheit riechen, der in dem nach saurem
Schweiß riechenden Raum hing wie beißender Rauch.
    »Nicht mehr als eine Stunde«, sagte Sarah von der Schlafzimmertür.
Sie zog sich gerade ihren Mantel an.
    »Eine Stunde ist in Ordnung«, sagte Walter.
    »Bei dir alles in Ordnung, Walter?«
    »O ja. Bestens.«
    Obwohl er genausogut wußte wie sie, daß es in diesem Raum niemandem
bestens ging. Obwohl er wußte, das Bill Dietz die Stadt täglich nach frischen
Heroinquellen absuchte und sich mit den Junkies und Pillenschluckern anstellte
und darauf wartete, daß der Dealer aufkreuzte. Um wie die anderen mit
vorgehaltener Polizeimarke und allem Brimborium festgenommen zu werden, doch er
war Bill Dietz, so daß sie ihn vorzeitig in Pension schickten und irgendeinen
Ganoven verprügeln ließen, damit das Ausscheiden aus dem Dienst einen
ordnungsgemäßen Anstrich bekam, und jetzt blickte er heimlich über
Fensterblenden und lauschte auf das Knarren der Bettfedern und versuchte es
schnell hinter sich zu bringen, damit er Zeit hatte, die Stadt zu durchstöbern.
    »Na, hast du dir Urlaub genommen?« fragte Walter das Jesusbild,
nachdem Sarah gegangen war. »Bist du jetzt ausgeruht und bereit, die
Zehntausend zu speisen? Brot und Fische, Leprakranke, Lazarus, all diese Dinge?
Wir könnten dich im Augenblick sehr gut gebrauchen. Oder bist du einfach nur
tot?«
    Jesus stumm am Kreuz. Seine traurigen gemalten Augen blickten zu
Boden.
    »Ich will eine Antwort, gottverdammt!« brüllte
Walter. »Ich verlange eine gottverdammte Antwort!«
    Er stand mit gerötetem Gesicht da, außer Atem, hob die Arme mit
geballten Fäusten und hörte nur sein eigenes, mühsames Atmen.
    Ein schockierender Verlust von Selbstbeherrschung, sagte er sich. Anne
hätte es sehr gefallen.
    Er kauerte sich hin und zog One Lonely Night aus dem
Versteck unter dem Bett. Er setzte sich auf den Stuhl am Kopfende von Marys
Bett und sagte: »Es kann sein, daß ich morgen nicht kommen kann, meine Schöne,
aber machen Sie sich keine Sorgen. Morgen ist Silvester, und ich bin sicher,
daß Bill etwas

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