Manhattan Blues
Hotel.
Walter hörte es als erster, einen Chor schriller Stimmen vor den Türen
des Saals. Das Geräusch war gedämpft und laut zugleich, so daß er davon
ausging, daß es vom Treppenhaus heraufkam.
Was mir ein bißchen Zeit läßt, dachte er, damit ich mich an die
Situation gewöhnen kann. Er stellte sein Glas ab und schlenderte wie beiläufig
zur Tür. Er war in der Vorhalle, als eine laute, betrunkene Stimme von unten
heraufdrang: »Kann die Prinzessin rauskommen und spielen?! Ob Rapunzel ihr
Haar herunterlassen kann?!«
Walter hörte, wie das Partygeplauder hinter ihm allmählich erstarb.
Die Gäste waren sich des Eindringlings jetzt zweifellos bewußt geworden, so daß
ihm nicht viel Zeit blieb. Er schaffte es noch rechtzeitig, die Tür zum
Treppenhaus zu erreichen, als diese aufging und ein Mann in die Halle torkelte.
Er war hochgewachsen und gut gebaut. Dichtes schwarzes Haar hing ihm
über die Stirn bis auf die gebrochene Nase herab. Sein blaues Jeans-Hemd war
unter seiner offenen blauen Matrosenjacke zu sehen. Seine baumwollenen
Twillhosen und die Arbeitsstiefel waren naß von Schnee, und er hielt eine
Flasche Bier und eine Strickmütze in der rechten Hand. Er blickte über Walters
Schulter hinweg auf die Szene im Saal und sagte: »Himmel, das ist ja Wien im
Jahre 1914.«
Das Gesicht kam Walter vertraut vor, doch er brauchte ein paar
Sekunden, um sich zu erinnern, wo er es schon mal gesehen hatte. Es hatte etwas
mit Anne zu tun. Mit ihrer Wohnung in Stockholm. Auf dem Schutzumschlag eines
Buches. The
Highway By Night. Sean McGuire.
McGuire hatte einige Berühmtheit erlangt, seitdem sein Buch in der Times hymnisch
rezensiert worden war. In dieser Besprechung war McGuire als Verkörperung der
»Beat«-Generation bezeichnet worden. Die Kulturpresse hatte den Begriff
»Beatnik« geprägt, um diese jüngste gegen das Establishment gerichtete
Bewegung zu bezeichnen. Walter erinnerte sich, daß McGuire Fullback der
Footballmannschaft der Columbia University gewesen war, bevor er den Ruf des
Highway bei Nacht hörte.
Er ging vor Walter hin und her und sagte: »Ich bin hier, um ein
Gedicht abzuliefern.«
»Ich habe Sie eher für einen Prosaschriftsteller gehalten«, bemerkte
Walter.
McGuires blaue Augen flackerten überrascht.
»Ist doch das gleiche, Poesie und Prosa«, brummte er. »Sollte es
jedenfalls.«
»Ah.«
»Ich bin hier, um ein Gedicht abzuliefern«, wiederholte McGuire.
Vier weitere Männer kamen hinter ihm durch die Tür. Alle vier waren
wie Helden der Arbeiterklasse gekleidet. Alle grinsten betrunken. Den Mageren
erkannte Walter aus einem von Annes Gedichtbänden. Die anderen hatte er noch
nie gesehen.
»Wie viele Männer sind nötig, um ein Gedicht abzuliefern?« fragte
Walter.
McGuire grinste und sagte: »Kommt darauf an, wie viele Kerle sie
aufzuhalten versuchen.«
Walter zuckte die Schultern. »Ich mag Gedichte.«
Walter hörte, wie hinter ihm die Fahrstuhltür aufging, und warf einen
Blick hinüber. Er sah, wie Callahan und Cahill ausstiegen. Warum haben sie der
Sache nicht schon unten ein Ende gemacht? Die Leibwächter gingen auf McGuire
zu, zögerten aber, als Walter den Kopf schüttelte.
Das bremste sie jedoch nicht. Was sie bremste, war Jimmy Keneallys
Kopfschütteln.
»Ich werde Ihnen mal was sagen«, sagte Walter zu McGuire. »Geben Sie
mir das Gedicht, und ich werde es für Sie abliefern.«
McGuire hob die Flasche, nahm einen kräftigen Schluck und schüttelte
den Kopf.
»Es ist nicht geschrieben«, sagte er
verächtlich. »Es ist kein geschriebenes Gedicht. Es strömt wie mein Herzblut.«
Das jeden Moment in Strömen fließen wird, wenn diese
Sicherheitsfiguren ihr Spiel abziehen, dachte Walter.
»Ein Gedicht für Madeleine Keneally!« dröhnte McGuire. »Madeleine,
traurige Madeleine, Königin des Reiches! Sie . . .«
»Was soll das alles?« fragte Joe Keneally, der plötzlich neben Walters
Schulter auftauchte.
Walter drehte sich um und sah Madeleine in der Tür stehen. Ihre
Wangen waren gerötet, und sie preßte die Lippen fest aufeinander. Hinter ihr
versammelten sich andere Gäste. Die Klatschkolumnistin zog ein Notizbuch aus
der Handtasche, während der Fotograf mit seinem Blitzlicht kämpfte.
»Ich werde mich darum kümmern, Senator«, sagte Walter.
McGuire fuhr fort: »... tanzt mit dem König, der auf dem
westlichen Thron von Jeffersons verlorenem Land sitzt und alles unamerikanisch
nennt, was nicht altes Geld ist...«
»Vorsicht jetzt, sonst fangen Sie
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