Manhattan Blues
eine Analyse lassen, denn wer auf feindlichem
Terrain zögert, ist verloren.
Weiter ins Wohnzimmer. Bemerkenswert unbemerkenswert. Sofa, Sessel,
Couchtisch. Ein einzelnes Bücherregal mit Bestsellern. Ein paar Bände, die ein
mögliches Interesse fürs Theater verrieten.
Hier wohnt niemand, dachte Walter. Es ist eine
konspirative Wohnung.
Doch dann fiel ihm etwas auf dem Couchtisch auf. Was war das?
Streichholzbriefchen in einer Glasschüssel. Etwas Pinkfarbenes fiel
ihm auf. Die Silhouette eines Mannes, der die Welt auf den Schultern trug. Das Good Night.
Walter durchwühlte die Schüssel. Nicht ein Streichholzbriefchen vom
Good Night, sondern vier.
Man frequentierte den Laden also.
Und nicht nur Michael Howard/Howard Benson, dachte Walter. Anne und
auch Alicia, die dort arbeitet, frequentieren ihn. Und wenn du zu der
Weihnachtsparty gekommen wärst, Michael Howard, hättest du mir die Mühe
ersparen können, in deine Wohnung einzubrechen. Aber du warst bei deiner
Familie zu Hause in deinem Vorort.
Er lauschte, ob sich im Hausflur jemand befand, bevor er hinausging.
Dann rief er von einer Telefonzelle aus im Büro an.
»Forbes und Forbes, mit wem darf ich Sie
verbinden?“
»Dem Dezernat für Sittlichkeitsverbrechen, bitte.“
»Sind Sie das, Mr. Withers?«
Walter ließ es sich nie nehmen, Agnes, der früheren Empfangsdame, ein
glucksendes Lachen zu gönnen. »Kein anderer, Agnes.«
»Wollen Sie >Ehesachen« fragte Agnes. »Sie haben Mr. Dietz
gerade verpaßt. Er ist vor etwa zehn Minuten gegangen.«
»Auf dem Weg wohin, wenn ich fragen darf, Agnes?“
»Jersey. Und ich kann Ihnen sagen, daß er nicht
glücklich aussah.«
Walter dankte ihr, hängte ein und wählte Dietz' Privatnummer.
Sarah nahm ab.
»Wie geht's dir?« fragte Walter, obwohl er dem Klang ihrer Stimme
anhörte, daß sie reichlich zu tun hatte. »Könntest du eine Pause gebrauchen?«
Zwei Minuten später fuhr er mit einem Taxi zur 42. Straße.
Mary Dietz war an diesem Nachmittag wach, jedoch erschöpft nach einer
schlimmen Attacke, und Sarah legte gerade die Spritze beiseite, als Walter
ankam. Der Geruch von gefoltertem Schweiß hing übelriechend im Schlafzimmer.
Sie freute sich jedoch, ihn zu sehen. Schenkte ihm das schönste
Lächeln, das sie zustande bringen konnte, wünschte ihm einen guten Nachmittag
und lauschte mit dem bißchen Vergnügen, das sie noch aufbieten konnte, seiner
melodramatischen Wiedergabe des Schundromans.
»In jener Nacht erhielt das Land in den 18.15-Uhr-Nachrichten einen
Bericht«, las Walter aus One Lonely Night. »Im State
Department hatte es ein Leck gegeben, und die Katze war aus dem Sack. Es hatte
den Anschein, als hätten wir ein Geheimnis gehabt. Ein anderer hatte es jetzt
an sich gebracht.«
Das Medikament wirkte gnädig schnell, und sie glitt in den Schlaf
hinüber, als er den Text nur noch leiernd vortrug. Er las jedoch weiter, weil
er in dem stickigen, einschläfernden Raum die Augen nicht würde zumachen
können.
Er wollte auch schlafen, weil ihm ein ereignisreicher Abend
bevorstand.
Er würde in die Stadt fahren und ausgehen.
Der große Abend begann, wie ereignisreiche Abende nach Walters Meinung
beginnen sollten, am Broadway, und wenn es etwas gab, was man am Broadway nicht
lieben mußte, wußte Walter nicht, was es sein könnte.
Der Broadway durchquert ganz Manhattan, doch wenn Walter an ihn
dachte, schwebte ihm nur der Teil um den Times Square herum vor, das
Theaterviertel, der Great White Way, der Broadway der funkelnden Lichter.
In dieser Weihnachtswoche von 1958 funkelten die Lichter im vollen
Glanz des amerikanischen Theaters. Als sie an jenem Abend den Broadway entlangschlenderten,
gingen Walter, Marta, Joe und Madeleine unter Lichtern hindurch, die den
Passanten verkündeten, was gespielt wurde: Music Man im
Majestic, West Side Story im Winter Garden und My Fair
Lady im Marc Hellinger. Judy Holliday spielte die Hauptrolle in The Beils Are Ringin' im Alvin, Lena Hörne trat im
Imperial in Jamaica auf, und John Gielgud machte in
seinem Ein-Mann-Stück The Ages of Man am
Broadway eine eigene Art von Shakespearehafter Musik.
Walter hatte die Besetzung der Theaterstücke praktisch im Kopf und
wußte, daß man in diesen wenigen Straßenvierteln folgende Schauspieler auf der
Bühne sehen konnte: Henry Fonda, Anne Bancroft, Helen Hayes, Jason Robards jr.,
Don Stanley, Don Ameche, Elaine Stritch, Joseph Cotten, Eddie Alber, Vivian
Blaine, Robert Morse, Christopher Plummer,
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