Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
Erinnerung. »Er ist eine Leiter hoch und auf einen – wie heißen die Dinger – Träger geklettert. Roger war verdammt flink. Aber Smiles war total irre und ist hinterher. Roger ist immer höher und höher. In der sechsten Etage oder so ist er auf eine Fahrstuhlplattform ein Stockwerk tiefer gesprungen. Smiles wollte ihm nach und ist abgestürzt. Hat sich den Hals gebrochen.
Wir wollten abhauen, aber irgendwer hat wohl die Bullen gerufen, und wir wurden verhaftet. Wir waren zwei Tage im Knast, aber dann wurde die Sache zum Unfall erklärt, und man ließ uns laufen.«
»Wissen Sie, wie seine Mutter hieß?«, fragte ich.
»Rogers?«
»Smiles’.«
»Nee, Mann. Ich sag doch, Smiles hat bei seinem Alten gewohnt. Irgendwo im Norden.«
»In Albany?«
»Woher soll ich das verdammt noch mal wissen? Und, helfen Sie mir jetzt?«
»Kennen Sie den Namen seines Vaters?«
»Nee, Mann.«
»Ja«, sagte ich zu dem großen keuchenden Häftling, »ich helfe Ihnen.«
Ich dachte, das Beste, was ich für ihn tun konnte, wäre, sein Essbesteck zu verstecken.
33
Auf der Rückfahrt rief ich Christian an und bat ihn, seinem Boss auszurichten, dass er für den Schutz von Toolie sorgen sollte.
»Sagen Sie ihm, dass es vielleicht irgendwann einmal nützlich werden könnte«, fügte ich hinzu.
Christian legte auf, und das Handy vibrierte in meiner Hand. Auf dem Display leuchtete TTS für Tony, The Suit, auf. Ich überlegte zwei ganze Erschütterungen lang und wies den Anruf dann ab. Anschließend wählte ich meine eigene Nummer in Zephyra Ximenez’ Büro.
»Hallo, Mr. McGill«, begrüßte mich meine Telefon- und Computerassistentin fröhlich. »Wie geht es Ihnen?«
»Ich würde jederzeit mit Ihnen tauschen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Albany«, sagte ich, »und reservieren Sie mir diesmal ein Zimmer in einem guten Hotel.«
»Das Minerva ist das beste«, sagte sie.
»Woher wissen Sie das?«
»Einer meiner Kunden ist Schönheitschirurg und arbeitet zwei Tage die Woche dort. Er übernachtet immer im Minerva.«
Langsam gewöhnte ich mich an den Flug. Ich hatte nur meinen MP3-Player und eine Schlafmaske dabei. Norah Jones sang für mich in der Dunkelheit. Ich glaube, dass ich vielleicht sogar kurz eingeschlafen bin.
Das Minerva war ein altmodisches Hotel mit einem echten Schreibtisch als Rezeption, an dem man zur Anmeldung Platz nahm. Die junge Frau am Empfang runzelte nicht die Stirn über meine Fingerknöchel oder meine Schuhe.
Eine breite Treppe mit einem rot-blauen Läufer führte in die oberen Etagen. Sie sah so einladend aus, dass ich auf den Fahrstuhl verzichtete und zu Fuß nach oben ging.
Das Zimmer war groß, fast wie ein Gästezimmer bei Verwandten auf dem Land. Ich wollte ein Bad nehmen, doch die Wanne erinnerte mich zu sehr an die, in der ich Norman Fell gefunden hatte, also wusch ich mich am Waschbecken, bevor ich in meinem Mietwagen Tinker’s Bar & Grill im South End ansteuerte.
Es war ein ziemlich verlassener Block in einer Gegend der Stadt, die vielleicht irgendwann einmal eine Identität gehabt hatte, geprägt durch die altmodischen Bauten aus dunklem Sandstein. Jetzt war das Viertel nur noch alt und vergessen. Etliche Gebäude standen leer. Leben herrschte allein in dem großen, grellen Restaurant. Es nahm fast einen halben Block ein und war zur Straße hin verglast, und man konnte sehen, dass an den Tischen Menschen jeder Rasse und Gesellschaftsschicht saßen. Im hinteren Teil gab es einen langen Tresen sowie eine Bühne an der Stirnseite des großen Raums.
Eine Gruppe junger Schwarzer in weiten Anzügen lungerte vor dem Eingang herum. Einer von ihnen rappte freestyle über seine Furchtlosigkeit und seine sexuellen Fähigkeiten. Er zeigte es der Bitch, war völlig ausgeflippt, er ging voll ab und scherte sich’n Dreck. SeineKollegen waren offenbar einverstanden mit den Worten und dem düsteren Vortrag.
Als ich mich dem Eingang näherte, stand der größte der Männer auf und versperrte mir den Weg. Er trug einen zweireihigen cremefarbenen Kaschmiranzug, ein knallpinkes Hemd und in der Tasche zumindest die goldene Kette einer Taschenuhr. Seine Haut war von einem grünstichigen Mittelbraun, und er hatte eine runde Narbe auf dem rechten Wangenknochen, die möglicherweise von einem Kleinkaliber stammte. Mit einem seiner Augen stimmte etwas nicht, aber ich strengte mich an, nicht hinzustarren.
»Wie geht’s?«, fragte mich das Gangster-Kid.
Während er sprach, scharten sich seine Freunde um
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