Manhattan Projekt
Sumpf schweifen. »Sie wachen gerade auf, hungrig, wie du es dir nicht einmal vorstellen kannst. Und wenn sie hungrig sind, dann werden sie böse. Kaimane sind die meiste Zeit über faule Zeitgenossen. Schlafen, scheißen und scheren sich um nichts, was um sie herum geschieht. Da mußt du schon auf ihrer Nase herumspazieren, um sie in Bewegung zu bringen. Nur zweimal am Tag – jetzt und bei Sonnenuntergang – werden sie gierig.« Er beschrieb einen kleinen Bogen mit dem erhobenen Zeigefinger. »Du kannst sie sehen, wenn du in diese Richtung guckst!« Er blickte wieder zu Blaine. »Was ich von dir verlange, mein Junge, ist, auf die andere Seite des Sumpfes hinüberzugehen.«
Blaine hätte auf viele Arten reagieren können, aber was nun kam, überraschte auch ihn selbst: er lächelte.
Er verließ sich auf seinen Instinkt, ging langsam mitten in den Sumpf hinein und ließ Torrey auf dem schmalen Pfad zurück. Der Sumpf reichte ihm mal bis zu den Knien, mal bis zur Hüfte, mit Inseln als Stütze für die Füße, zu sehen als verschwommene Flecken, die das Licht unterschiedlich reflektierten. Blaine hatte vor, von einem Flecken zum anderen zu tänzeln; wenn das gelang, würde er keinen einzigen Alligator berühren.
Ein zwölf Fuß großes Tier glitt mit offenem Maul vorbei, als Blaine auf den ersten Hügel hüpfte. Manchmal gerieten seine Sprünge zu einem hektischen Tanz, denn er trat anfangs viel zu fest auf und lenkte die tödlichen Rachen der Alligatoren ungemütlich nah an sich heran. Einmal wäre er beinahe von einem grauen Krokodil angegriffen worden, wäre nicht ein anderer Alligator plötzlich aus dem Wasser geschossen und hätte ihn beiseite gestoßen. Dann versuchte Blaine, sanfter auf den Inseln zu landen, er glitt förmlich durch die Luft anstatt zu springen.
Das Problem war nur, daß die Natur seinen Plan durchkreuzte. Die Abstände zwischen den Inseln wurden größer, je näher er dem gegenüberliegenden Ufer kam. Blaine drehte sich kein einziges Mal zu Buck um; hier ging es nicht um Buck. Es ging auch nicht um ihn. Hier ging es um Furcht, und darum, sie zu besiegen. Nicht die Furcht vor Alligatoren, denn diese waren nur ein Werkzeug. Es war die Furcht vor wirklicher Gefahr, die den Schmerz überwindet.
Als er zwei Drittel der Strecke zurückgelegt hatte, löste er sich vom festen Untergrund – jetzt trennte ihn nur Wasser vom gegenüberliegenden Ufer. Blaine ließ sich ins knietiefe schwarze Wasser gleiten, das ihm bald bis zur Taille reichte. Das Wasser schlug plötzlich Wellen, was ihm signalisierte, daß ein Alligator ihn anvisiert hatte und näher kam. Er bekam das Gefühl für die Bewegung des Wassers um ihn herum, und als dies unruhig wurde, ließ er sich zur Seite fallen und entkam so knapp dem gierigen Rachen, der nun blind ins Leere schnappte.
Plötzlich erkannte er, daß er die Gegenwart der Alligatoren spüren konnte, auch wenn ihm das Wasser ihre Position nicht verriet. Er begann sich vorsichtiger zu bewegen, glitt mit der Strömung, anstatt sie durcheinander zu bringen. Sein erster Gedanke war, sich einen Zweig zu schnappen, einen Stein, irgendeine Waffe. Doch er verbot sich instinktiv jeden weiteren Gedanken. Er lernte, seine Bewegung mit denen der Alligatoren zu verschmelzen, ließ sich hinter ihnen hertreiben. Zum Schluß sahen sie Blaine nur noch gleichgültig an, obwohl er sich in ihrer Mitte befand.
Blaine erinnerte sich an andere Sümpfe, andere Urwälder, in denen die Chancen die gleichen waren, nur die Gegner waren andere. Er verstand jetzt, warum Buck bis zu diesem Tag gewartet hatte, um ihn hierher zu bringen. Das Überleben erforderte ebenso geistige Kraft wie körperliche. Auf diese Weise gab ihm Buck zu verstehen, daß er das eine erreicht hatte und das andere prüfen mußte: Nicht nur den Körper, auch den Geist mußte er wieder unter Kontrolle bringen.
Kinderleicht.
Genau so fühlte es sich an, zwischen Alligatoren zu wandern. So wie damals, als er einen anderen Dschungel durchstreift hatte.
Als er das andere Ufer erreichte, wo Buck Torrey jetzt wartete, hätte Blaine schwören können, daß einige Alligatoren ihre Schnauze aus dem Wasser streckten, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen. Sie schienen verwirrt zu sein, froh, daß der Fremde noch vor der Mittagshitze aus ihrer Mitte verschwunden war.
»Bist du zurück zum Abendessen?« fragte ihn Torrey und winkte ihm zu.
»Ich werde für eine Weile fort sein«, verkündete Buck, als Blaine an jenem
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