Manhattan
Obergeschoß war allerdings alles andere als gewöhnlich. Über die Hintertreppe – eine architektonische Notwendigkeit, die
zu manchem üblen Scherz Anlass gab – erreichte man einen großen Raum, der nur den Jungs und den Mädchen und deren geladenen Gästen diente.
Das Obergeschoß wurde von einer distinguierten alten Tunte aus dem Süden geleitet, einem Mann namens Jules Benoit, einem Strohmann, dem der Laden nach außen hin gehörte. Die Wahrheit, wie Walter wusste, sah anders aus: Das Good Night gehörte wie alle anderen Schwulenkneipen im Village der Mafia.
Die eigentümliche Ökonomie des Lasters, dachte Walter. Ob es nun um illegales Glücksspiel geht, Prostitution, Drogen oder Perversionen, jede Erscheinungsform des menschlichen Verhaltens, welche die Gesellschaft nicht anerkennen will, zwingt sie in den Untergrund, wo die Mafia sie übernimmt und gegen einen Aufpreis anbietet.
Ebenso wie das Sittendezernat. Walter wusste, dass die Cops gut dafür bezahlt wurden, dass sie im Good Night nicht die Hintertreppe hinaufgingen.
Walter und Anne waren zum Good Night hinübergezogen, gleich nachdem McGuire sein Gedicht beendet hatte. Von dem Moment an, in dem sie den Club betreten hatten, stürzten sie sich in einen dieser stummen Kämpfe, wie sie bei altgedienten Paaren vorkommen: Anne begann sofort, jeden im Raum zu umarmen und zu küssen, worauf Walter in einem Martini und einer Haltung distanzierter Höflichkeit Zuflucht suchte.
Das lag jedoch weder daran, dass die Gäste vornehmlich homosexuell waren, noch daran, dass einige von ihnen Frauenkleider trugen – sehr teure dazu –, und auch nicht an der offenen Küsserei zwischen Männern.
Doch, daran liegt es doch, gestand er sich ein. Es störte ihn. Seltsam, weil es ihn in Europa nicht gestört hatte, nicht bei
seinen Aufenthalten in Amsterdam und Kopenhagen, und ganz gewiss nicht bei seinen Expeditionen durch die Männerbordelle Hamburgs, wo er auf der Suche nach jungen Talenten Köder für seine Fliegenfänger eingekauft hatte.
Homosexualität kam ihm jedoch irgendwie unamerikanisch vor. Nicht in dem Sinn von anti - amerikanisch, ganz gewiss nicht, vielleicht war nicht-amerikanisch der genauere Ausdruck. Sie erschien ihm wie ein europäisches Laster, das irgendwie im Widerspruch stand zu der aggressiven Fruchtbarkeit Amerikas. Homosexuelle Amerikaner hier hatten die leicht hysterische Energie von Eingesperrten, da sie in den Untergrund getrieben wurden. Walter kannte den schauerlichen Druck, Geheimnisse wahren zu müssen, die beengende Notwendigkeit, sich so tief zu verstecken, dass man sich nur in kurzen, zwanghaften Ausbrüchen zu erkennen gibt, selbst wenn man sich sicher fühlen kann.
Diese klischeehafte Schrillheit der Homosexuellen, schloss Walter daraus, ist das Pfeifen des kochenden Wasserkessels.
Und an diesem Weihnachtsabend pfiff der Kessel besonders fröhlich.
Der Raum war wunderschön eingerichtet, genau in dem Art-déco-Stil, den Walter besonders schätzte. Das Lokal hatte die Aura einer eleganten Kneipe der Prohibitionszeit und war für Weihnachten genauso herausgeputzt worden wie der Saal im Plaza. Nur geschmackvoller, dachte Walter und lachte über sein Vorurteil. Doch es war tatsächlich so. Die weißen, schwarzen und silbernen Art-déco-Ornamente waren mit Lametta, Weihnachtsbäumen aus Aluminium und schwarzen Scherenschnitten aus Karton auf Weihnachten getrimmt worden. Diese zeigten den Schlitten des Weihnachtsmanns, Rehe, Spielzeugsoldaten und Puppen. Auf dem langen Tisch mit dem Buffet in der Mitte des Raums war eine Modellbahn
aufgebaut worden, und die Lokomotive dampfte mit ihren Güterwagen fröhlich um die Platten mit Fleisch, Käse, Brot und Salaten herum. Der Kohlenwagen transportierte Oliven.
Die Versammlung der Feiernden glitzerte nicht weniger. Da ihnen hier kein Smoking-Zwang Beschränkungen auferlegte, sah man eine elegante Mischung von Stilen, angefangen bei den dunklen Tweedanzügen der Schriftsteller – Walter erkannte einen der erfolgreichsten Romanciers des Jahres und einen mächtigen Kritiker – bis hin zu weiten, smaragdgrünen oder feuerroten Seidenhemden über engen schwarzen Baumwollhosen, wie sie die Theaterleute bevorzugten. Einige trugen Krawatten, deutlich mehr hatten sich Halstücher umgelegt, und die meisten trugen offene Hemdkragen.
Die Lesbierinnen hatten sich etwas förmlicher gekleidet. Walter sah mehrere Smokings mit Fliegen, einen Smoking und sogar ein paar Mützen mit Quasten und
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