Mann Ohne Makel
offenkundig war. Während er ordnete, begannen seine Hände zu zittern. Magen und Darm verspannten sich zu einem Krampf. Es wurde ihm kalt und heiß zugleich, kalter Schweiß rann über sein Gesicht. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Signale des Körpers verstand. Noch nie in seinem Leben hatte er mehr Angst gehabt als jetzt. Wenn seine Arbeitshypothese stimmte und der Mörder sogar Polizisten und Kinder tötete, dann war Stachelmann weiter in Lebensgefahr, so lange, bis der Fall gelöst war. Dann mochte der Opel ein Verfolgerauto gewesen sein oder nicht, dann wartete in Weimar der Tod. Ein zweites Mal würde der Mörder es nicht vermasseln. Er würde ein noch höheres Risiko eingehen als beim letzten Anschlag, weil er glauben musste, Stachelmann habe etwas herausgefunden.
Stachelmann schaute sich um. Es war früher Nachmittag, der Schatten der Linde wanderte auf den Friedhof. Stachelmann hielt die Hand vor die Augen, dann folgte sein Blick der Pflasterstraße. Hinten sah er ein silbernes Auto, die Luft flimmerte. Wie gelähmt starrte Stachelmann dem Auto entgegen, es zog eine Staubfahne hinter sich her. Ein Impuls sagte ihm, er solle fliehen. Aber sein Körper bewegte sich nicht. Er spürte die Hitze nicht mehr, schaute nur nach dem Auto. Am Steuer saß ein Mann mit weißen Haaren. Ein Audi, silbermetallic. Stachelmann erkannte das Kennzeichen: MOL, ein Mann aus diesem Landkreis. Der Wagen fuhr vorbei, Staub bedeckte Stachelmann.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er weinte. Er war von der Mauer gerutscht, lehnte sich mit dem Rücken an sie, saß auf dem Gras des Straßenrands. Er fasste sich an die Augen und spürte die Tränen auf seinen Händen. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, trocknete das Gesicht. Sein Körper zitterte. Er zwang sich, kräftig und ruhig zu atmen. Ein Schatten fiel auf ihn. Vor ihm stand ein Hund, schaute ihn mit schrägem Kopf an. Stachelmann fühlte sich schwach, als er sich erhob. Das Zittern war schwächer geworden. Er setzte Fuß vor Fuß, prüfte seine Atmung. Er öffnete die Autotür, heiße Luft strömte ihm entgegen. Er setzte sich auf den Fahrersitz, streckte sich auf die andere Seite und öffnete die Beifahrertür. Er saß im Luftzug, der Hund war ihm gefolgt. Er schnüffelte an der Fahrertür.
Stachelmann verließ den Wagen, der Hund pinkelte an den linken Vorderreifen. Stachelmann nahm seine Aktentasche aus dem Kofferraum, er musste wühlen, bis er sein Adressbuch fand. Er blätterte bis zum Buchstaben D und wählte Annes Handynummer. Sie nahm gleich ab.
»Kann ich zu dir kommen, für ein paar Tage?«
Sie antwortete nicht gleich. »Was ist los? Ist dir was passiert?«
»So kann man es sagen.« Er mühte sich, seiner Stimme Kraft zu geben.
»Du hörst dich an, als wärst du krank.«
»Ich bin gesund. Sogar noch am Leben.« Er lachte.
»Hattest du einen Unfall?«
»Ich hatte einen Einfall, und der bringt mich in Schwulitäten.«
»Wo bist du?«
»In einem Kaff irgendwo in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt.«
»Ich dachte, du wolltest nach Weimar.«
»Das dachte ich auch, bis ich meinen Einfall bekam.«
»Sei mir nicht bös, aber du redest ziemlich wirres Zeug.«
»Das entspricht meinem geistigen Zustand. Kann ich kommen?«
»Komm.«
»Und der Kongress?«
»Das kriege ich hin.«
Auf den ersten Kilometern seiner Fahrt nach Hamburg war er sicher, im Straßengraben zu landen. Aber das Zittern ließ nach, und er begann sich auf die Straße zu konzentrieren. Hin und wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel. Er hielt nur einmal an, um zu tanken. Dann raste er weiter. Wenn später jemand das Wort Tunnelblick benutzte, dachte Stachelmann immer an diese Fahrt über den Berliner Ring nach Hamburg. Es war noch hell, als er den Wagen in einer Seitenstraße nahe von Annes Wohnung parkte. Nicht zu dicht, dachte er, falls dir einer folgt. Er stieg die Treppe hoch bis zur Wohnungstür und klingelte.
Anne stand in der Tür und sagte: »Mein Gott, wie siehst du aus! Hast du getrunken?«
Er schüttelte den Kopf und ging hinein. Er zog die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel innen um.
Sie schaute ihn an, als wäre er ein Wesen aus einer anderen Welt.
Er ging zum Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Sie stellte sich vor ihn hin. »Hast du Hunger, Durst?«
»Etwas zu trinken, bitte.«
Sie kam mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zurück. Sie schenkte ein und reichte ihm ein Glas. Sie setzte sich auf einen Sessel
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