Mann Ohne Makel
um das zu wissen, muss man kein Jurist sein. Und was hat Maximilian Holler damit zu tun? Wer hat Enheim umgebracht und Hollers Frau und die Kinder?«
»Lass uns weiter in deinen ungelesenen Akten stöbern.« Sie wollte witzig sein. »Es ist eine Rachegeschichte«, sagte sie.
»Aha«, sagte Stachelmann. »Das glaube ich auch, nur, wer will sich an wem rächen? Wurde einer aus der SS-Mafia über den Tisch gezogen? Hat ein Opfer überlebt und gibt jetzt den Serienkiller? Es kommt was hinzu: Es sind alles alte Knacker. Die kann ich mir nicht so recht vorstellen, in der einen Hand die Krücke, in der anderen die Knarre.«
»Die Leute werden alt heutzutage. Fahr mal auf Mallorca. Da schwärmen sie von ihren Heldentaten an der Ostfront. Oder Südamerika. Da gibt es bis heute eine Kolonie alter Nazis. Ich habe gerade ein erhellendes Buch des ehemaligen Pressereferenten von Goebbels gelesen, ist gerade erschienen in einem Kieler Verlag. Juden schreibt der nur in Anführungszeichen, Deutschland wurde der Krieg aufgezwungen, wer es nicht glaubt, ist Opfer der Umerziehung durch die Siegermächte und ihrer Kollaborateure. Man mag das nicht fassen, aber das gibt es.«
Stachelmann staunte.
»Ich hab mich mal damit beschäftigt. Die Flucht der braunen Helden, zum Teil mithilfe des Vatikans, ab ins schöne Südamerika, Argentinien war angesagt. Denen geht’s da richtig gut, machen Geschäfte mit ihren Gesinnungsgenossen in der Heimat, und am 20. April, Führers Geburtstag, wird gesoffen. Das machen diese alten Leute. Und warum soll nicht einer von denen weitermorden?«
»Kinder?«
»Warum nicht? Das haben sie früher auch getan. Das ist für die nichts Besonderes.«
»Ich krieg’s trotzdem nicht auf die Reihe. Und wer hat Enheim umgebracht?«
»Weiß ich nicht, aber ich tippe mal auf den Kindermörder. Die hatten Streit, weiß der Geier, um was. Und wenn einer nichts dabei findet, Leute umzubringen …«
»Mag sein«, sagte Stachelmann. »Aber es beantwortet nicht die entscheidende Frage. Wer ist es? Er muss ein besonderes Motiv haben. Stellen wir uns vor, die anderen haben ihn reingelegt, jedenfalls glaubt er es. Der alte Holler ist tot, also rächt er sich am Junior. Das ist schon die erste Geschichte, die ich nicht glaube. Völlig verrückt. Und er bringt den Sohn nicht um, sondern lässt ihn miterleben, wie er seine Familie ausrottet. Du hast zu viele Krimis gelesen.«
»Ich habe mich zu oft mit Nazis beschäftigt«, erwiderte sie. »Krimis mag ich nicht. Und du stehst sowieso eher auf Lord Hornblower.«
»Was du so alles weißt.«
»Man wird ja mal schauen dürfen, was bei dir auf dem Nachttisch liegt, wenn man schon in dein Bett komplimentiert wird. Aber jetzt mal was anderes, ich habe Hunger. Du könntest mich zum Italiener einladen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, später. Ich bin hier noch nicht fertig.«
In den folgenden Stunden lasen sie schweigend in Stachelmanns Akten.
Anne warf einen Ordner auf den Tisch und rieb sich die Augen. »Also, ich habe jetzt keine Lust mehr auf Akten. Wir sitzen schon den ganzen Tag im Staub, ohne was zu essen. Das ist Folter. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich gehe jetzt. Du kannst ja dann kommen, wenn du genug Staub gefuttert hast. Ich serviere sogar noch einen Nachtisch. Tschüss.«
Er begriff nicht, wie man so schnell die Neugier verlieren konnte. Der Berg der Schande war zur Hälfte abgetragen, jetzt ließ er Stachelmann nicht mehr los. Er musste wenigstens jeden Ordner einmal in der Hand gehabt haben. Die Kopien stammten aus einer Zeit, als er durch die Archive zog und Kopien auf Verdacht bestellte. Er hatte das meiste nicht gelesen. Es war ein Aktenchaos, das ihn so stark erregte, wie er es gefürchtet hatte. In den Akten lagen Wahrheiten. Nicht immer in Reinform, aber wozu war er Historiker, wenn er nicht Wahrheiten aus Papier herausfiltern konnte? Er nahm Ordner um Ordner in die Hand, schaute hinein, schlug sie zu, legte sie weg, griff wieder nach einem, den er schon weggelegt hatte, weil ihm spät etwas zu dem einfiel, was er gelesen hatte.
Auf dem Tisch, am Fuß eines Stapels, sah er einen Ordner aus verblasstem braunen Papier. Er zog ihn heraus. Auf dem Deckel stand in seiner Schrift: Gestapo-Handakte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich verfluchte. Er hätte dereinst genauer aufschreiben sollen, was in den Ordnern enthalten war. Gestapo-Handakte, das konnte alles und nichts heißen. Er schlug den Deckel auf und begann zu blättern. Kopien von
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