Mann Ohne Makel
Flieger am Fallschirm landete auf seinem Feld. Erst wusste Jack nicht, was er tun sollte. Dann rannte er hin, fiel über eine Scholle, stand auf und war endlich an der Stelle. Der Mann lag am Boden, Blut rann aus einer Wunde am Kopf. Die Augen starrten ihn an, die Fliegerbrille war aufs Kinn gerutscht, ein Glas zersplittert. An der Brust trug er einen Orden, ein Kreuz. Jack stand eine Weile bewegungslos und starrte den Flieger an. Der bewegte sich nicht. Dann kamen Leute mit Mistgabeln und Jagdgewehren. Als sie den Flieger sahen, senkten sie ihre Waffen. Einer sagte: »Gott sei Dank, das Schwein hat’s erwischt.« Bald erschien ein Polizist. Sie trugen die Leiche weg.
Vielleicht stammte der Flieger aus Hamburg. Jack stellte sich vor, wie der Pilot im Hauptbahnhof Abschied nahm von seiner Frau, um nach Frankreich zu fahren, an die Kanalküste. Dort stieg er mit seiner Staffel auf, Ritter der Lüfte im Dienst des Teufels. Und dann holte ihn eine Spitfire oder Hurricane über England vom Himmel. Er malte sich den Luftkampf aus, ein englisches Fliegerass jagt das Naziflugzeug. Es fiel ihm leicht, Luftkämpfe sah man hier fast jeden Tag. Wenn ein englisches Flugzeug abgeschossen wurde, wuchs die Angst, besonders nachts. Traf es ein deutsches Flugzeug, war er glücklich. Er spürte die Entschlossenheit der Leute, unter denen er lebte. Aber auch ihre Angst. Und wenn die Nazis doch über den Kanal kamen?
In der Schule mühten sich die Lehrer, die Klassenkameraden zu hindern, ihn anzugreifen. Einmal lauerten ihm vier Mitschüler auf und verprügelten ihn. Mit blutender Nase kam er nach Hause. Dort setzte es zur Strafe Schläge. Manche nannten ihn Kraut, es dauerte eine Weile, bis er begriff, was es bedeutete. Einmal kamen Leute von einer jüdischen Hilfsorganisation und fragten ihn, ob er in ein Internat gehen wolle. Sie sahen hart aus, er blieb in dem kleinen Dorf namens Steyning.
Auf dem Schulhof stand ein alter Kirschbaum. Darunter spielten Jungen mit einem Spielzeugauto. Es war ein teures Auto, mit Lenkung, die Türen ließen sich öffnen. Jack hätte gern mitgespielt, aber die Klassenkameraden stießen ihn zurück, wenn er es versuchte. Ein Junge aus seiner Klasse ließ das Auto fallen. Er versuchte es auf dem Boden zu schieben. Es fuhr im Kreis, die Lenkung klemmte. Der Junge ruckelte am Steuer, er konnte es nicht bewegen. Jack hatte Angst, aber er nahm das Auto und sagte, er werde es reparieren. Die Jungen staunten, dann lachten sie ihn aus. Nur einer nicht, Tony, ihm gehörte das Auto, er hatte es in die Schule mitgenommen und würde zu Hause Ärger bekommen, wenn es kaputt war. Am nächsten Morgen stand das Auto repariert auf Tonys Tisch.
Als Jack noch nicht Jack hieß, sondern Leopold, hatte er oft bei einem Onkel in der Werkstatt gesessen. Der Onkel war Uhrmacher, er verstand sich auf die Seele des Uhrwerks. Mit leuchtenden Augen hatte Leopold dem Onkel zugesehen, wie er mit eingeklemmter Lupe Rädchen betrachtete und sie mit winzigen Werkzeugen wieder zum Laufen brachte. Dabei redete er ununterbrochen mit den Uhren und den Zahnrädern, als müsse er sich Mut machen. Damals begann Leopold die Mechanik zu erforschen, auf kindliche Weise noch, dafür umso eindringlicher. Ein Rad musste ins andere greifen, Ungenauigkeiten verhinderten die Bewegung. Es half ihm, in Steyning zu überleben. Er konnte ein Spielzeugauto reparieren und fand einen Freund, Tony. Die anderen Schulkameraden hörten auf zu spotten, doch spürte Jack weiterhin die Blicke, die ihn trafen, wenn die Wehrmacht Siege errungen oder, später dann, Niederlagen erlitten hatte. Was mochten die anderen denken? Dass man immer Deutscher blieb, auch wenn Landsleute einen aus der Heimat getrieben hatten? Damals wusste Jack nicht, was dem alten Mann klar war. Er war Deutscher, er hasste die Nazis mehr, als ein Engländer sie hassen konnte. Sie hatten ihm alles genommen, Eltern, Geschwister, Großeltern. Als der alte Mann nach Deutschland zurückkam, da nahmen sie ihm auch noch sein Erbe. Bald darauf war Tony gestorben, bei einem Verkehrsunfall. Er konnte nicht an seiner Beerdigung teilnehmen. Deutsche durften damals nicht nach England reisen.
Der alte Mann stand auf und ging in die Küche. Es war Zeit für den Nachmittagstee. Er setzte den Wasserkessel auf den Gasherd, füllte Tee in eine Porzellankanne und wartete, bis das Wasser kochte. Er goss das kochende Wasser in die Teekanne, schaute auf die Uhr und setzte sich. Er würde den Tee lange ziehen
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