Mann Ohne Makel
möglich. Wir müssen dieser Spur folgen. Aber vieles sieht anders aus, als es ist. Manches erscheint uns so plausibel, dass wir gar nicht anders können, als es zu glauben. Das ist gefährlich.« Er stand auf und ging zum Fenster.
Er schaute hinaus. »Wer von uns hat zuletzt mit Holler gesprochen?«
Ossi überlegte einen Augenblick. »Ulrike«, sagte er.
»Und was?«, fragte Taut.
»Keine Ahnung.«
»Das heißt, ihr habt hier gesessen, und Ulrike hat kein Wort über ihren Besuch bei Holler gesagt?«
»Nein, so ist es nicht«, erwiderte Ossi. »Sie hat mir gesagt, dass sie noch einmal da war. Und sie hat mir auch gesagt, dass es nicht auf deine Weisung geschah. Sie wollte sich den Mann selbst in Ruhe anschauen, hören, was er sagte. Sonst nichts.«
»Komisch, seit wann hatte sie Geheimnisse? Und kurz darauf wird sie überfahren.«
»Ja«, sagte Ossi. »Kurz darauf wird sie totgefahren.«
»Und was ist mit dem Artikel?«
»Keine Ahnung, aber ich kenne da jemanden, mit dem ich darüber reden kann. Der beschäftigt sich von morgens bis abends mit dem Zeug.«
»Mit der SS?«
»Mit der SS«, sagte Ossi.
***
Mit einem selbst gebauten Boot hatten sich Kapitän Hornblower und seine Gefährten die Loire hinuntergeschlichen, verkleidet als Offiziere des napoleonischen Zolldienstes. In Nantes kaperten sie die Witch of Endor, die die Franzosen kurz zuvor erobert hatten, und schüttelten ihre Verfolger ab, Hornblower glänzte als Kanonier. Auf hoher See trafen sie auf ein britisches Linienschiff. Sie waren gerettet, Hornblower standen Beförderung und Ruhm in Aussicht und neue Abenteuer. Das fiel Stachelmann als Erstes ein, als er aufwachte. Das Zweite war die Erinnerung an seinen Besuch bei Anne. Er hatte auf der Rückfahrt an nichts anderes gedacht. Er wurde nicht schlau aus dem, was er erlebt hatte. Was hatte Bohming vor? Eine Intrige? Steckte er mit Anne unter einer Decke, buchstäblich und im übertragenen Sinn?
Sicher war nur eines. Anne war keineswegs so selbstbewusst, wie sie aussah. Sie war ihm als unnahbar erschienen, wie jede schöne Frau. Schönheit schüchterte Stachelmann ein.
Während er seinen Tee trank und ein Müsli aß, las er in den Lübecker Nachrichten. Dem Holler-Mord war nur noch eine Spalte auf einer der hinteren Seiten gewidmet. Es war vorbei mit den Schlagzeilen. Wahrscheinlich würde Bild noch ein paar Pfeile auf den Senat verschießen, beklagen, dass es nicht genug Polizisten gebe, dass Hamburg eine der unsichersten Städte Deutschlands sei. Bald waren Bürgerschaftswahlen.
Das Telefon klingelte. Stachelmann hasste es, morgens angerufen zu werden. Er ging ins Wohnzimmer und meldete sich unfreundlich mit seinem Namen.
»Entschuldigung, Herr Stachelmann.« Es war Alicia.
»Ich dachte, wir hätten alles besprochen«, sagte Stachelmann. Es klang nicht so ruppig, wie es klingen sollte.
»Das stimmt ja auch«, sagte Alicia.
Stachelmann schwieg.
»Nur eines habe ich vergessen. Sie zu fragen, wann ich die Arbeit abgeben soll.«
»Bevor das nächste Semester beginnt«, sagte Stachelmann. »Aber das wissen Sie doch.«
Alicia atmete tief. »Ich bin gerade in Lübeck.«
Stachelmann spürte Erregung. Einen Augenblick zögerte er. Er hatte lange nicht mehr mit einer Frau geschlafen.
»Das ist eine schöne Stadt«, sagte Stachelmann und legte auf.
Er brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Er ging in sein Arbeitszimmer. Es war klein, an den Wänden standen Bücherregale, auf dem Boden lagen Bücherstapel. Der Schreibtisch bestand aus einer Holzplatte auf zwei Böcken. Er war bedeckt mit Büchern und Papier. In Zeiten guter Laune pflegte Stachelmann das Chaos in seinem Arbeitszimmer als paläontologische Herausforderung zu beschreiben. Wenn er etwas suchte, musste er Papierschichten durchwühlen. Manchmal überkam ihn der Ordnungssinn, und er staunte über seine Funde. Aber der Ordnungssinn war ein flüchtiger Geselle.
Stachelmann schaltete den PC ein, der in einer Ecke des Schreibtischs stand. Er mochte diesen Apparat nicht, aber er hatte sich an ihn gewöhnt. Er schrieb nichts mehr mit der Hand, weil er alle Notizen und Arbeiten am PC durchsuchen konnte. Er hatte kein Verständnis für die Anbetung des Internets, aber es erleichterte ihm das Leben. Er verstand es als riesige Datenbank, er hatte gelernt, in ihm zu suchen.
Heute gab es fast nur Werbe-Mails. Ossi hatte eine Mail geschickt und fragte, ob sie mal wieder ein Bier trinken könnten. Ja, warum nicht? Außerdem wusste Ossi
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