Mann Ohne Makel
bestimmt mehr über diesen Holler-Mord, als in der Zeitung stand. Warum interessiere ich mich für dieses Verbrechen? fragte sich Stachelmann. Es gibt jeden Tag Mord und Totschlag. Weil es diese furchtbare Systematik hatte?
Das Telefon klingelte. Schon wieder Alicia?
Er nahm den Hörer ab und sagte: »Ja?« Es klang verärgert.
Am anderen Ende Schweigen. Dann sagte eine leise Stimme: »Soll ich später noch einmal anrufen? Entschuldige bitte die Störung, hier ist Anne.«
»Tut mir Leid, ich war unhöflich«, sagte Stachelmann.
Sie zögerte. Dann fragte sie: »War ich aufdringlich, gestern?«
»Nein«, sagte Stachelmann.
»Wann kommst du wieder ans Seminar?«
»Montag, wie immer«, erwiderte er.
»Gehen wir dann über Mittag mal was essen, nicht in der Mensa? Ich zahl auch.«
»Gerne«, sagte Stachelmann. Er freute sich. Und zweifelte. Was wollte sie?
Er hatte am Wochenende Zeit, darüber nachzudenken. Er wusste, er würde keine Antwort finden. Vielleicht wusste nicht einmal Anne eine Antwort.
Er ging zurück in sein Arbeitszimmer und nahm sich einen Artikel vor, den er seit einiger Zeit zu lesen versuchte. Er war grauenhaft schlecht geschrieben, gespickt mit Fremdwörtern, gestelzt. Ja, so musste man schreiben, wenn man etwas werden wollte. Stachelmann schrieb wenig. Er fand seine Aufsätze zueinfach, ohne Raffinesse, ohne jenen Anflug der Überheblichkeit, der andere beeindruckte. Er musste diesen Artikel lesen, es würde darüber Streit geben, Studenten würden ihn fragen, was er von den Thesen des Autors hielt. Es ging um den Streit unter den Nazis über die ersten Konzentrationslager. Die einen wollten die meisten Gefangenen bald freilassen, die Einschüchterungswirkung sei erzielt und damit der Sinn der »Schutzhaft« erfüllt. Andere, darunter der Chef der noch kleinen Schutzstaffel, Herr der bayerischen KZs, vor allem Dachaus, wollten ihre Gefangenen dort behalten, wo sie waren. Himmler war rachsüchtig und hasste alle Leute, die das System von Weimar verkörperten. Sie sollten büßen für die Jahre der Schmach, besonders die Juden. Himmler setzte sich durch. Bald war er der Chef aller KZs. Der Autor des Artikels schwadronierte über den Versuch, Fundamente des Rechtsstaats im Dritten Reich zu retten. Es klang fast so, als wäre Hitlers Deutschland ein Rechtsstaat geblieben, hätte nicht Himmler seinen Willen durchgesetzt.
Stachelmann las den Aufsatz nicht fertig, er legte ihn auf eine Ecke des Schreibtischs.
Er stand auf und ging in seiner kleinen Wohnung hin und her.
Im Wohnzimmer stand ein zweisitziges Sofa, ein Sessel, die Musikanlage in einem Wandschrank, sonst nichts. Besuchern fiel auf, er besaß kein Fernsehgerät. Es macht dumm, sagte Stachelmann, wenn er gefragt wurde. Vielleicht würde er sich trotzdem irgendwann eines kaufen, manchmal ärgerte es ihn, wenn Leute über einen guten Film sprachen, den sie im Fernsehen gesehen hatten. Aber das geschah selten.
Die Unruhe trieb ihn aus dem Haus. Er lief durch Lübecks Altstadt, überall Zeugen des Reichtums aus der Zeit der Hanse. Von Reichtum und Hanse war nicht viel geblieben. Die Stadt hatte Schulden, Oberbürgermeister und Stadtparlament verbissen sich in Streitereien, an deren Ursache und Gegenstand sich schon nach kurzer Zeit keiner mehr erinnern konnte. Da war nichts mehr zu hören oder zu sehen von einstiger Größe. Er ging die Königstraße entlang bis zur großen Buchhandlung, die er hin und wieder besuchte, um sie niedergedrückt zu verlassen, nachdem er gesehen hatte, wie vielen Kollegen es gelungen war, ihre Bücher zu vollenden. Da standen sie im Regal unter der Rubrik Geschichte, eines neben dem anderen.
Morgen würde er seine Eltern in Reinbek besuchen. Er würde ein wenig herauskommen aus dem Sumpf, in dem er lebte. Aber er freute sich nicht.
Gleich nach dem Frühstück setzte sich Stachelmann in seinen alten Golf, mit der Bahn wäre es eine lange Reise geworden. Er nahm die Auffahrt Lübeck-Mitte und fuhr Richtung Hamburg. Auf der Gegenfahrbahn stauten sich die Autos, viele verbrachten das Wochenende an der Ostsee. Er fuhr in gemächlichem Tempo und fragte sich, wie lange er schon nicht mehr verreist war. Das letzte Mal hatte ihn Karin überredet, mit ihr nach Mallorca zu fliegen. Es war grauenhaft gewesen, überall Urlauber, fast nur Deutsche und Briten. Er wollte im Urlaub andere Gesichter sehen, das war auf Mallorca nicht möglich. Er fand die Mischung aus Prolos und Spießbürgern abstoßend. Sie waren laut,
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