Mann Ohne Makel
Ball spielten.
Kurz vor der Seebrücke verließ Stachelmann den Strand. An der Promenade setzte er sich zu einer alten Frau auf eine Bank und schloss die Augen. Er war erschöpft. Ein Röhren riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Golf, tiefer gelegt, mit schwarz verblendeten hinteren Seitenscheiben, dröhnte über die Uferstraße. Darin ein junger Mann, der Arm hing lässig aus dem Fenster. Stachelmann stand auf und ging in Richtung Scharbeutz. An der Scheibe seines Autos hing ein Strafmandat. Er zog es weg unter dem Scheibenwischer und ließ es auf den Boden fallen. Er hatte vergessen, am Automaten einen Parkschein zu ziehen. Es war ihm gleichgültig. Er fuhr vor zur Kreuzung und bog dort ab auf die Bundesstraße 432 in Richtung Itzehoe. In Ahrensbök verließ er die Bundesstraße in Richtung Stockeisdorf und Lübeck. Warum mussten so viele Orte nahe der Ostsee so hässlich sein?
Er parkte seinen Wagen an der Obertrave. Im Wohnzimmer blinkte der Anrufbeantworter. Seine Mutter. Sie klang traurig. Er möge zurückrufen. Er nahm das tragbare Telefon und legte sich aufs Bett. Dann wählte er die Nummer seiner Eltern. Seine Mutter war nach dem ersten Klingeln am Apparat.
»Deinem Vater geht es nicht gut«, sagte sie.
»Mir auch nicht.«
»Vielleicht habt ihr noch nicht alles besprochen.«
»Was gibt es noch zu bereden?«
»Ich glaube, dein Vater würde sich freuen, dir noch etwas über diesen Holler zu erzählen. Du interessierst dich ja so für diesen Mann.«
Stachelmann antwortete nicht. Natürlich interessierte ihn dieser Mann.
»Warum sagst du nichts?«, fragte seine Mutter.
»Und was weiß er?«
»Das will er dir selbst sagen.«
»Dann hol ihn bitte ans Telefon.« Stachelmann war sich sicher, der Vater saß neben der Mutter und hörte mit der Ohrmuschel zu.
Seine Mutter zögerte, dann sagte sie: »Er ist spazieren. Außerdem ist es, glaube ich, besser, wenn er es dir nicht am Telefon sagt.«
»Ich muss packen, dann fahre ich nach Berlin und Weimar. Wenn ich zurück bin, melde ich mich«, sagte Stachelmann. Er hätte gern gewusst, was sein Vater über Holler zu berichten hatte. Er hätte sofort zu ihm fahren können, aber er wollte nicht. Seine Mutter war noch trauriger, als er sich verabschiedete. Der Bruch mit dem Vater war unausgesprochen, es hatte keinen Streit gegeben, jedenfalls kein Geschrei oder was sonst dazu gehören mochte. Stachelmann hatte sich verabschiedet und war nach Hause gefahren. Er hatte keinen Zweifel, auch sein Vater hatte den Riss gespürt.
Und was hatte er mit Holler noch zu tun nach dem Anschiss beim Polizeipräsidenten? Von Ossi hatte er auch nichts mehr gehört. Er überlegte, ob er Ossi anrufen solle. Aber dann ließ er es. Er griff zu Hornblowers Abenteuern in der Karibik.
Auf der Bundesautobahn 24 wimmelte es von Urlauberautos. Schwer beladen, Fahrräder auf dem Dach, manche mit Anhänger, Wohnmobile und Wohnwagen. Die meisten kamen aus der Gegenrichtung, aus Berlin. Die Raststätten waren überfüllt und lärmig. Auf dem Berliner Ring fuhr Stachelmann ein Stück in Richtung Süden und verließ die Autobahn an der Ausfahrt Zehlendorf. Es waren nur noch wenige Kilometer bis Lichterfelde. Dort war vor einiger Zeit die Berliner Niederlassung des Bundesarchivs eingerichtet worden. Stachelmann kannte einige Aktenbestände, er hatte nach der deutschen Einheit einen Ausflug unternommen in die Geschichte der DDR. Damals besuchte er das ehemalige Zentrale Parteiarchiv der SED in der WilhelmPieck-Straße am Prenzlauer Berg, die inzwischen Torstraße hieß. Im früheren Gebäude des Zentralkomitees der SED, am Eingang Pieck und Grotewohl, war dereinst das Institut für Marxismus-Leninismus untergebracht gewesen, es verwahrte die Aktenbestände von SED und KPD. Im obersten Stockwerk, fast unter dem Dach, schleppten fleißige Archivare Tonnen von bis dahin nicht freigegebenen Akten zu ihren neugierigen Lesern. Es war ein Erlebnis für Stachelmann, aber nicht nur für ihn. Seit Jahren schon gammelte das Gebäude in der Torstraße vor sich hin, die Akten lagerten in Lichterfelde, in der ehemaligen Kaserne der Leibstandarte-SS »Adolf Hitler«, auf deren Hof während des »Röhm-Putsches« im Juni 1934 tatsächliche und vermeintliche Gegner des Führers serienweise ermordet wurden. Immer wenn er hierher fuhr, ging ihm diese Geschichte durch den Kopf.
Er stellte den alten Golf an der Straße vor dem Haus Morgenland ab. Es war ein altes Gemäuer mit knarrenden Dielen. An der Rezeption
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