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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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dachte er. Es musste doch auffallen. Vielleicht wussten die Leute längst, wer er war.
    Wenn er hier stand, fiel ihm ein, wie es anfing. Es fing hier an. Es war lange vor der Nacht im November 38. Es erschienen zwei Herren, er erinnerte sich noch gut. Der eine trug eine schwarze Uniform, der andere einen Ledermantel. Der mit dem Ledermantel war erst freundlich. Setzte sich im Wohnzimmer an den Tisch. Kohn erinnerte sich gut, wie seine Eltern erst nicht wussten, wie sie den Besuch verstehen sollten, dann weinten sie. Sein Vater schrie, dann weinte er wieder. Die Mutter schickte Leopold in sein Zimmer. Er würde die Angst in ihrer Stimme nicht vergessen. Er stand in seinem Zimmer an der Tür und lauschte. Er verstand nicht viel, aber es klang furchtbar. Plötzlich wurde seine Tür aufgerissen. Die beiden Männer kamen herein und schauten sich um.
    »Schön«, sagte der mit dem Ledermantel. »Sehr schön.« Er ging zum Fenster. Als er zur Tür zurückkam, zertrat er das Spielzeugauto, das ihm sein Vater geschenkt hatte. Ein Maybach, rot, aus Blech. Der Mann schien nicht gemerkt zu haben, dass er das Auto zerstört hatte. Leopold konnte vor Angst nichts sagen. Aus dem Wohnzimmer hörte er das Schluchzen seiner Mutter. Die beiden Männer gingen in die anderen Zimmer. »Schön«, sagte der Mann mit dem Ledermantel. »Wirklich schön.«
    »Warum nehmen Sie uns alles weg?« Die Stimme seiner Mutter. Weinen, Zorn, Verzweiflung.
    »Sie kriegen gutes deutsches Geld dafür. Seien Sie froh, dass wir das Haus nicht einfach beschlagnahmen. Wir hätten das Recht dazu. Wir bezahlen etwas, das wir auch umsonst bekommen könnten. Wir sind großzügig.« Kohn hatte sich das Gespräch aus den Fetzen seiner Erinnerung zusammengereimt. »Wir sind großzügig.« Dieser Satz war gefallen. »Wir sind großzügig.«
    Die Behörden wiesen den Kohns eine winzige Mietwohnung in der Schlachterstraße am Großneumarkt zu. Dort lebten andere Juden, denen Ähnliches widerfahren war. Manche Väter saßen in Neuengamme.
    Kohn wusste nicht mehr, wann die Idee entstanden war, ihn nach England zu schicken. Es war nach der Reichskristallnacht. Seine Mutter erfuhr von der Kinderverschickung nach England. Sie zögerte nicht, Leopold für einen Transport anzumelden. »Damit wenigstens einer von uns durchkommt«, sagte sie. Leopold verstand nicht, was sie meinte. Er würde seine Eltern wiedersehen, was sprach dagegen?

XII
    Er hörte die Bremsen quietschen. Es tat weh, als er auf das Gleis prallte. Irgendwo schrieen Leute. Eine Frauenstimme übertönte die anderen, ein Sopran des Schreckens. Es schien ihm, als wäre er woanders, läge nicht auf den Bahngleisen. Wie durch einen Nebel hatte er die Bahn heranrasen gesehen, rot, zwei Scheinwerfer, darüber die Scheibe. Hinter der Scheibe als Schemen erkennbar der Triebwagenführer, Kostas Ionanides. Ihm hatte es Stachelmann zu verdanken, dass er überlebte. Der Mann hatte aufgepasst, er war Anfänger und ängstlich. Stachelmann erfuhr später, Ionanides habe Kollegen zugehört, die Menschen überfahren hatten. Selbstmörder, die einen zum Mittäter und zum Opfer machten. Man kann das nicht verhindern, es dauert lang, bis ein Zug anhält, Hunderte von Tonnen zerren an den Bremsen. Stahl auf Stahl, das sei zwar haltbar, aber die Bremswirkung von Gummi erreiche es nicht. Als Ionanides das erste Mal von den Toten auf den Gleisen erfahren hatte, schwor er sich, noch besser aufzupassen. Er wollte nicht nachts aufwachen, weil er von Leichenteilen geträumt hatte, von Leichen, die er zerrissen hatte. Hätte ein anderer im Führerhaus gesessen, dann wäre Stachelmann wahrscheinlich tot gewesen. Später, als er den Schock überwunden hatte, da gab es manche Sekunden, in denen Stachelmann sich wünschte, Ionanides hätte an diesem Abend mit Grippe im Bett gelegen. Es hätte Stachelmann Schmerzen und Verzweiflung erspart.
    Er hätte sich an den Kopfwagen des Zugs anlehnen können. Der stand wenige Zentimeter vor seinem Körper. Er blickte hoch zum Bahnsteig, sah die Blicke der Zuschauer und hob einen Arm. Endlich löste sich ein Mann aus dem Pulk und stieg hinab zum Gleis. Er war schmächtig und trug einen Rucksack. »Geht es?«, fragte er. Stachelmann nickte. Der Mann stützte ihn, als Stachelmann sich erhob. Das rechte Schienbein schmerzte, die Rippen auch. Er war mit dem Kopf aufgeschlagen, seine Hand rötete sich, als er sich über die Stirn fuhr. Von oben streckten sich Hände entgegen, der Mann auf den Gleisen schob,

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