Manöver im Herbst
unterbrach öfter die Vorstellung … Einige Kinobesucher verließen schnell ihre Plätze und rannten in der fahlen Dunkelheit zum Ausgang. Sie wurden am Ausgang des Kinos empfangen und zusammengeschlagen. Bis in die Musik des Filmes hinein hörte man ihr Schreien.
Schütze tastete nach der Hand Amelias. Als er sie nahm, war sie kalt und zitterte. »Ruhe, nur Ruhe …«, sagte er leise. »Draußen muß etwas Furchtbares im Gange sein …« Er wollte aufstehen, aber Amelia umklammerte seine Hand und zog ihn auf den Sitz zurück.
»Bleib«, bettelte sie. »Bleib hier. Hier … hier –« Sie wollte nicht sagen: Hier ist es sicher. Wo gab es heute noch Sicherheit …?
Als sie aus dem Kino kamen, sahen sie ein Chaos vor sich. In der Wilmersdorfer Straße hieben SA-Männer in die Fensterscheiben der jüdischen Geschäfte. Sie rissen die ausgestellten Waren heraus und warfen sie auf die Straße. Aus den Wohnungen, durch die Fenster stürzten Betten auf die Straße, Schränke, Öfen … Zwei schwitzende Gesichter erschienen in einem großen Balkonfenster der dritten Etage. Dann rollte ein Klavier auf den Balkon. Fünf SA-Männer kippten es über die Brüstung. Mit einem hellen Krachen zerschellte das Klavier auf dem Pflaster … Die Saiten klangen nach, in allen Akkorden, eine schreiende Melodie, die in grellen Dissonanzen erstarb.
Auf einigen Lastwagen wurden die Juden gesammelt. Man zerrte sie aus den Häusern und Geschäften … halb angezogen, im Nachthemd, mit übergeworfenen Decken. Mit Karabinerstößen jagte man sie auf die Lastwagen. Ein Kind, das weinend auf die Straße stürzte, griffen zwei SA-Männer und warfen es in hohem Bogen in die Menge auf dem Lastwagen.
Ein Schneien von Bettfedern kam auf die Zusehenden herab. In den Fenstern hingen andere SA-Männer und schlitzten die Federbetten auf. Dabei sangen sie: Stellt die Juden an die Wand!
Abseits, mit dem Rücken zu den Zerstörenden, standen zwei Polizisten an der Straßenecke. In der Ferne färbte sich der Himmel rot. Es war, als schlagen hohe Lohen in die Nachtwolken.
»Die Synagoge brennt«, schrie jemand aus einem Fenster der oberen Etage.
Ein Jubel antwortete ihm. Eine Kolonne war dabei, die Ladeneinrichtungen zu zerschlagen. Mit Äxten bearbeiteten sie die Theken und Schränke. Ein Jude, der sich in seinem Geschäft in einem Schrank versteckt hatte, wurde auf die Straße gezerrt. Drei SA-Männer hielten ihn fest und schlugen ihn abwechselnd ins Gesicht, bis er aus Mund und Nase blutete.
»Ruf: Heil Hitler!« schrien sie ihn an. »Los, du Judenschwein. Brüll –«
»Heil … Heil Hitler …«, stammelte der Jude.
»Sag: Ich bin ein kleiner Rassenschänder –«
Der Jude hob den Kopf. Verzweifelt, mit seinen Blicken nach Hilfe schreiend, sah er die Umstehenden an. Er begegnete Haß und Freude, Fanatismus und Gleichgültigkeit, Angst und wehrlosem Schrecken. Aber niemand aus der vielköpfigen Menge half ihm. Da brach er zusammen und ließ sich zum Lastwagen schleifen. Man zog ihn empor und legte ihn an den Aufbau.
Heinrich Emanuel Schütze riß sich von Amelia los, die seinen Arm umklammert hielt. Er rannte zu den beiden Polizisten, die an der Ecke standen und dem Geschehen den Rücken zudrehten.
»Was stehen Sie hier herum?« brüllte er. »Greifen Sie doch ein! Wozu sind Sie Hüter der Ordnung –«
Die Polizisten sahen den brüllenden Mann wütend an. Schütze trug Zivil. »Gehen Sie weiter!« schrien sie zurück.
»Ich werde Sie anzeigen!«
»Wer sind Sie?« Einer der Polizisten nahm ein Notizbuch aus der Tasche. »Sie kommen mit zur Wache!«
»Ich bin Hauptmann Schütze.« Der Polizist klappte sein Buch zusammen und steckte es wieder ein. »Ich verlange von Ihnen, daß Sie sofort die armen Menschen schützen vor diesen Raubauken!«
»Es sind SA-Männer, Sie sehen es doch, Herr Hauptmann. Wir haben keinen Befehl, einzugreifen.«
»Kann sich die Partei denn alles leisten? Auch das hier?« schrie Schütze.
»Es ist die natürliche Volkswut, Herr Hauptmann. Ein Jude hat vom Rath erschossen … jetzt übt das Volk Vergeltung an den Rassengenossen …«
»Leben wir denn im Mittelalter?« Über die Straße liefen zwei jüdische Mädchen. Steinwürfe verfolgten sie. Ein paar Schritte vor den Polizisten blieb eines der Mädchen liegen. Ein Stein hatte es am Kopf getroffen. »Helfen Sie doch dem Mädchen!« brüllte Schütze. »Wie können Sie als Polizist mit ansehen, daß …«
Die Polizisten drehten sich von dem Mädchen weg. »Gehen
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