Manöver im Herbst
Unterführerkorps im Lehrraum I versammelte und die Unteroffiziere und Feldwebel in Taktik, Erdkunde und Geschichte prüfte.
Das Ergebnis war erschreckend.
»Wie wollen Sie Soldaten ausbilden und wissen selbst nicht einmal, daß das deutsche Kaiserreich 1871 ausgerufen wurde? Aus der Geschichte lernen wir, nicht aus der Gegenwart. Ich werde ab jetzt jede Woche mit Ihnen die deutsche Geschichte durchgehen. Griffekloppen allein macht noch keinen Soldaten.«
Hauptmann Schütze überblickte die erschrockenen Gesichter seiner Unterführer. Es war ein neuer Soldatenjahrgang. Sie trugen mit Begeisterung die Uniform, aber sie hatten wenig Sinn für Tradition.
Damals, als er junger Fähnrich des Kaisers war, bedeutete Soldatsein einen der Höhepunkte des Lebens. Heute – so schien es – war das Tragen der Uniform mehr ein Abenteuer. Man spürte, daß etwas in der Luft lag … der Siegeslauf Hitlers würde mit dem Sudetenland nicht aufhören. Immer mehr schielte der Blick nach Osten … nach Polen, nach dem Korridor, nach dem Memelland … nach dem Hultschiner Ländchen … Das große Abenteuer Krieg spukte in den Gehirnen der Jungen. In Hunderten von Kriegsbüchern wurde der Erste Weltkrieg verherrlicht. Sterben war wieder eine Ehre geworden. Der Heldentod verlor den Schrecken … er wurde wieder Erfüllung des männlichen Lebens. Er wurde wieder deutsch.
Hauptmann Schütze erkannte den Zwiespalt, der auch in ihm war. Soldatsein war für ihn eine Notwendigkeit … aber wenn er an Verdun dachte, an die Somme-Schlachten, an Cambrai, erfüllte ihn ein Grauen, das auch nach einundzwanzig Jahren nicht abgeschwächt war.
Es kamen Stunden, in denen Heinrich Emanuel Schütze still und nachdenklich war. Die neue deutsche Wehrmacht war die stärkste Militärmacht Europas geworden. Sie hatte es bewiesen … die Welt scheute davor zurück, mit Deutschland in einen Konflikt zu kommen. Sie duldete Dinge, die vor zehn Jahren eine sofortige neue Besetzung Deutschlands zur Folge gehabt hätten. Es gab eine starke Luftwaffe, es gab wieder U-Boote, Schlachtschiffe, Panzerwagen, schwerste Geschütze. Über 52 Divisionen standen unter den Waffen. Es war eine Leistung Hitlers, die Schütze bewunderte. Sein altes Soldatenherz zollte ihm rasenden Beifall.
Aber die kurzen Erlebnisse im Egerland, der Abtransport der Kommunisten, die Plünderungen, die weißen großen Schilder ›Wir wünschen keine Juden‹, der leise, aber stetig wachsende Druck in allen Parteiorganisationen, aus der Kirche auszutreten, die Einrichtung von Konzentrationslagern – von denen sich Schütze keinen Begriff machen konnte, außer den, daß sie nicht gesetzmäßig waren – alle diese Auswüchse der braunen Hierarchie verdunkelten das begeisterungsfähige Bild der neuen starken Wehrmacht.
Generaloberst Freiherr v. Fritsch war abgelöst worden. Generalfeldmarschall v. Blomberg hatte den Abschied bekommen. Generaloberst Beck war in den Ruhestand versetzt worden. Das alles geschah unter merkwürdigen, entehrenden und als Sieg der Partei betrachteten Umständen. Ein neues ›Oberkommando der Wehrmacht‹ wurde anstelle des Reichskriegsministeriums gebildet. General Keitel, ein fanatischer Bewunderer Hitlers, wurde Chef des OKW, General v. Brauchitsch Oberbefehlshaber des Heeres. General Halder trat als Chef des Generalstabs ein … Eine Säuberung war durch die Wehrmacht gegangen. Allein dreizehn Generale wurden entlassen. An ihrer Stelle traten neue Kommandeure, die in Hitler den größten Führer der deutschen Geschichte sahen.
Das alles sah und hörte Hauptmann Schütze. Aber ihm fehlte der Überblick, Wahrheit und Verleumdung zu trennen. Er fühlte sich nur unwohl, wenn er den neuen Geist sah, und er fühlte sich fast ängstlich, wenn er die neugebildeten Waffen-SS-Verbände sah, die Leibstandarte. Schwarze Regimenter, bestens ausgebildet, mit den neuesten Waffen, mit Sonderrechten und einer Arroganz gegenüber der Wehrmacht, die schon beleidigend war.
Am 9. November 1938 sahen sich Schütze und Amelia einen Film an. Kurz vorher war eine Meldung durch das Radio gekommen. In Paris, in der deutschen Botschaft, hatte ein jüdischer Fanatiker mit Namen Herschel Grünspan den deutschen Botschaftsrat vom Rath erschossen.
»So eine Dummheit«, hatte Hauptmann Schütze gesagt. »Das wird wieder eine Verwicklung mehr mit Frankreich geben.«
Dann waren sie ins Kino gegangen. Aber gegen Schluß des Filmes drang von draußen Stimmengewirr in den Kinsosaal, helles Klirren
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