Manöver im Herbst
keine Menschen mehr …«
Im oberen Stockwerk prasselte die durchgebrannte Decke herab. Kalk und Putz fiel von den Wänden. Das Rauschen der Flammen schlug durch die Fenster.
Dr. Bernstein und Hauptmann Schütze sahen empor. Schütze nickte.
»Die Antwort«, sagte er heiser. »Kommen Sie schnell, ehe Sie brennen oder verschüttet werden –«
Sie rannten aus dem brennenden Haus. Der SA-Scharführer im Vorgarten wollte sie anhalten. Schütze schob ihn zur Seite, nahm die Hand Dr. Bernsteins wie die eines zögernden Kindes und rannte mit ihm weiter … durch die Straßen.
Vor der Wohnung Schützes blieb Dr. Bernstein noch einmal stehen.
»Lassen Sie mich gehen, Herr Hauptmann. Was sie tun, ist fast wie ein Selbstmord.« Er riß sich aus Schützes Hand los. »Sie können mich doch nicht jahrelang beherbergen. Für uns Juden ist es jetzt aus.«
»Sie kommen mit!« Schütze drängte Dr. Bernstein in den Hausflur. »Im übrigen hat meine Tochter einen hartnäckigen Husten. Ich brauche Sie als Arzt –«
Langsam, sich am Treppengeländer hochziehend, folgte Dr. Bernstein dem vorangehenden Schütze. Als Amelia ihnen die Tür öffnete, fiel er an der Schwelle zusammen.
*
»Es ist ein Kreuz mit Ihnen«, sagte General Müller. »Es ist mir unmöglich, Sie nach den letzten Ereignissen noch hier zu verwenden. Sie sind Soldat und kein Politiker. Sie haben sich nur um die militärischen Dinge zu kümmern … was draußen vorgeht, muß Ihnen schnuppe sein.«
Heinrich Emanuel Schütze stand im Dienstanzug vor dem General. Was ihn erwartete, wußte er bereits aus Andeutungen von Kollegen. Er war in Berlin untragbar geworden.
»Ich bitte um eine Versetzung«, sagte er deshalb, als General Müller schwieg.
»Das ist das mindeste.« Der General schüttelte den Kopf. »1933 habe ich Sie nicht verstanden … dann lernte ich Sie verstehen … und jetzt begreife ich Sie wieder nicht. Mal sind Sie ein Freund, mal ein Gegner des Regimes … was sind Sie wirklich?« Müller erhob sich und kam um den Schreibtisch auf Schütze zu. »Diese Frage ist rein privat.«
»Ich erkenne Leistungen an und verabscheue Unrechtmäßigkeiten.«
»Und Sie sind in dem Glauben, daß Ihre Ansichten richtig sind?«
»Ja.«
»Da kann man nichts machen.« General Müller wandte sich ab. »Erwarten Sie weitere Befehle –«
Am 1. Mai 1939 wurde Hauptmann Schütze versetzt.
Nach Rummelsburg. In die Einsamkeit Hinterpommerns.
»Dort kann er verschimmeln«, sagte General Müller, als er die Versetzung unterschrieb.
13
Heinrich Emanuel Schütze verschimmelte allerdings nicht.
Er hatte sich nie wohl gefühlt in Berlin. Er war kein Verwaltungsmensch. Der Einmarsch ins Egerland, bei dem er wieder eine Kompanie führen durfte, hatte es ihm gezeigt: Er gehörte dorthin, wo man den Atem der Zeit spürt. Der Pulsschlag der Geschichte wollte abgetastet werden. Hauptmann Schütze empfand dies als seine ureigenste Aufgabe.
In Rummelsburg allerdings fand er noch kleinstädtischere Auffassungen als damals in Detmold vor. Außerhalb der Kaserne, wo der gleiche Mief wie in allen Kasernen herrschte, der gleiche Ton, die gleiche Sturheit der Gefreitendienstgrade, die gleiche, für Schütze unbegreifliche Desinteressiertheit des Unteroffizierskorps an Geschichte und Tradition und das um so größere Interesse an Saufereien, die nationalsozialistische Borniertheit der jungen, und die vorsichtige Zurückhaltung der älteren Offiziere, außerhalb dieser Fülle von Nichts erwies sich Rummelsburg als eine Anhäufung von Tratsch und Klatsch.
Hauptmann Schütze beschäftigte sich in den ersten Wochen damit, die neue Wohnung einzurichten, Kontakt mit dem Oberschuldirektor aufzunehmen und seine Kinder auf die neue Schule umzumelden. Er besuchte eine Tagung des Kriegervereins, fuhr nach Döberitz, wo Christian-Siegbert eine Übung machte und überzeugte sich, daß sein ältester Sohn gute Soldateneigenschaften hatte.
Im Kasino erfuhr er dann, was alles ›in der Luft‹ lag.
»Es stinkt wieder gewaltig«, sagte ein Major, der gerade aus Berlin gekommen war. »Ich habe unter der Hand erfahren, daß der Führer am 23. Mai ganz intern dem Generalstab seine Angriffsabsichten gegen Polen bekanntgegeben hat. Brauchitsch war bestürzt, meine Herren. Aber Keitel und vor allem Göring waren begeistert. Es existiert bereits in der Reichskanzlei eine neue ›Europakarte‹. Sie soll ein völlig neues Gesicht haben. Ein Block in der Mitte – Deutschland. Ein Block im Süden –
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