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Manöver im Herbst

Manöver im Herbst

Titel: Manöver im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sie in den vergangenen vierundzwanzig Jahren nichts gelernt?«
    »Viel, Herr General. Sehr viel. Nur das Recht ist unveränderlich.«
    In seinem Zimmer – die Division hatte ein altes Schloß beschlagnahmt – stand Schütze später am Fenster und sah hinaus auf die sanft gewellten, mit Weinstöcken bewachsenen Hügel.
    Nun ist man Major, dachte er. Fast ein Vierteljahrhundert hat man dafür gebraucht. Zwei Kriege hat man erlebt, einen Zusammenbruch, eine Inflation, man ist Margarineverteiler geworden, dann wieder Soldat, und man hat immer seine Ideale behalten bis zu jenem Tag im Egerland, an dem man den Mißbrauch der Macht erkannte … Aber was hatte man daraus gelernt? Hatte man den Mut gehabt, die Uniform auszuziehen und vielleicht wieder Margarineverteiler zu werden? Nein – man hatte die Zähne zusammengebissen und war dabeigeblieben. In Polen und jetzt auch in Frankreich … und man würde weiter mitmachen … Als Major, als Oberstleutnant, als Oberst … und wenn eine Million oder zehn Millionen Juden hingerichtet würden … man würde weiter marschieren, einem Befehl gehorchend, eine gutgeschmierte Maschine, die dahinmarschierte und das tat, was ein Obermaschinist an seinem Schalttisch ausdachte.
    Heinrich Emanuel Schütze fuhr am nächsten Tag zurück zur Truppe. Er gab einige Kisten Sekt aus zur Feier seiner Beförderung. Er selbst nahm daran nicht teil. Er legte sich ins Bett, schrieb einen Brief an Amelia und die Kinder und starrte dann an die Decke seines Zimmers.
    Hat mein Leben eigentlich einen Sinn? grübelte er. Menschlich gesehen … na ja. Ich habe drei Kinder gezeugt, ich habe eine Frau glücklich gemacht (wenigstens nehme ich an, daß sie glücklich ist), ich habe ihnen ein finanziell sorgloses Leben gegeben, den Kindern eine gute Ausbildung … das wäre genug für ein erfülltes Leben. Aber innerlich … bin ich innerlich das, was man glücklich nennt? Zufrieden? Habe ich jemals richtig gelacht? War ich jemals richtig betrunken? Habe ich mich ein einziges Mal vom Alltag gelöst? War ich jemals von einer solch herrlichen erwachsenen Kindlichkeit, in der man sich über eine Blume, über einen gaukelnden Schmetterling, über einen um einen sonnenheißen Stein kriechenden Käfer, über eine in flimmernder Luft sich im Wasser spiegelnden Libelle freuen konnte? War ich jemals ich?
    Er drehte sich seufzend auf die Seite und schloß die Augen. Er hatte plötzlich das Gefühl, im Leben viel, zu viel versäumt zu haben. Es war ihm, als sei von seinen Augen mit der Verleihung der silbernen geflochtenen Schulterstücke eine Maske heruntergerissen worden. Nun sah er sich im Spiegel … auf den nackten Schultern die silbernen Majorsstücke … und darunter und darum nichts. Gar nichts. Nur Nacktheit. Fade Nacktheit. Ein Gesicht, ein Körper … glatt wie Wachstuch. Nur die Achselstücke glänzten.
    Warum hast du gelebt, würde vielleicht Gott einmal fragen. Und dann mußte Heinrich Emanuel Schütze antworten: Um Major – oder Oberstleutnant – oder Oberst zu werden. Und Gott würde sagen: Habe ich dir darum das Leben gegeben? Und er müßte antworten: Ich weiß es nicht, Herr. Was sollte ich anders tun? – Und Gott würde schreien, und die Himmel würden seine Stimme zurückwerfen bis zu den entferntesten Sternen: Ein Mensch solltest du sein, Heinrich Emanuel – nur ein Mensch! Aber was bist du geworden: Nur eine Uniform! – Habe ich den Menschen darum geschaffen, daß er sich mit buntem Tuch bekleidet und dann gegenseitig totschlägt?
    Major Schütze sprang auf und riß sich den Kragen auseinander. Er trat ans Fenster und sah hinaus in die warme Juninacht. Luft. Luft. Kann man an den eigenen Gedanken ersticken?
    Er ging hinaus. Zum Stall. Der Pferdebursche schlief neben dem Gaul. Er weckte ihn, ließ sein Pferd satteln und ritt allein aus in die Nacht.
    »Herr Major sollten nicht allein reiten!« rief der Gefreite ihm nach. »Es sind noch versprengte Franzosen in der Gegend …«
    Schütze hörte ihn nicht mehr. Er trabte durch die Weingärten, hielt vor einer Bank, stieg ab, band das Pferd an die Banklehne an und setzte sich.
    Über dem Land schwamm der Mond in einem Meer weißer Wölkchen. Es roch nach frischer Erde. Heinrich Emanuel lehnte sich zurück und stützte die Hände auf den Banksitz. Er sah hinüber zu den schlafenden Dörfern. Wie nah sie sind, dachte er. Aber eine Stunde bin ich bis hierher geritten. Wie herrlich diese nächtliche Einsamkeit ist. Sie ist wie ein tiefes, reinigendes

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