Manöver im Herbst
gegenüber hatte er immer Komplexe gehabt. Sie hatten sich nicht verloren. Er spürte es jetzt. »Sie sind ja auch dabei –«
»Ich sammle nur auf, was der Krieg fortwirft. Mülleimer der Geschichte. Oder ist Ihnen Lumpensammlung lieber? Was ich finde, flicke ich zusammen zur neuerlichen Verwendung. Der Kreislauf geht dann so weiter, bis nichts mehr zu flicken übrig bleibt. Auch die beste Masse Mensch verbraucht sich einmal …«
»Sie haben sich nicht geändert.« Heinrich Emanuel ging mit Dr. Langwehr ein paar Schritte abseits. »Der gleiche Sarkasmus. Aber jetzt müssen Sie ihn etwas revidieren: Können Sie leugnen, daß wir herrliche Siege errungen haben? Können Sie übersehen, daß wir diesen Krieg gewinnen mit einem Sieg, der ohne Beispiel in der Geschichte ist?«
»Im Augenblick hat er ja erst begonnen.« Dr. Langwehr bot Schütze eine Zigarette an. »Was haben Sie damals gesagt, als wir an der Marne standen?«
»Das ist heute ganz anders.«
»Allerdings. Man hat den Tod perfektioniert.«
Über sie hinweg zog donnernd ein Geschwader von Bombern. Schütze zeigte mit ausgestrecktem Arm empor.
»Dort zieht unser Sieg!« rief er.
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Wollen Sie übrigens mein zum Einsatz kommendes Feldlazarett sehen? Es ist die primitivste Ausrüstung, mit der jemals eine Sanitätskolonne in einen Krieg gezogen ist.«
»Das ist doch unmöglich!« rief Schütze.
»Warum?« Dr. Langwehr hob die Schultern. »Anscheinend rechnet man damit, daß der deutsche Soldat weniger verwundbar ist als andere Soldaten. Wir sind ausgerüstet wie zu einem größeren Manöver –«
14
Es gibt im Leben eines Mannes eine Zeitspanne, die er als die glücklichste seines Lebens betrachtet. Sei es eine große Liebe, ein großer geschäftlicher Erfolg, der Erwerb einer Briefmarkensammlung, eine Scheidung oder der Wegzug der Schwiegermutter.
Für Heinrich Emanuel Schütze war der Sieg über Frankreich und sein Einzug in die Champagne, nach vierundzwanzig Jahren zum zweitenmal, das ganz große Erlebnis.
Er war zum Major befördert worden … anscheinend ging es nicht mehr anders. Er hatte ein Alter erreicht, in dem man einen aktiven Hauptmann scheel ansieht. Der Übertritt in den Stabsoffiziersrang vollzog sich allerdings anders, als es sich Schütze immer erträumt hatte.
Er bekam sein Majorspatent von seinem neuen Divisionsgeneral ausgehändigt. Vor drei Tagen war er mit der Führung beauftragt worden. Der alte General hatte eine andere Verwendung im Führerhauptquartier bekommen. Noch niemand kannte den neuen Kommandeur, am allerwenigsten der frische Major Schütze, der zum Divisionsstab bestellt wurde, um seine Beförderung entgegenzunehmen.
Er wartete drei Stunden, bis der General Zeit hatte. Dann ließ man ihn ein.
Am Fenster stand ein hochgewachsener, alter Herr mit weißen Haaren, ein Monokel im Auge und sah Hauptmann Schütze erwartungsvoll entgegen. Er nickte mehrmals, als Heinrich Emanuel zackig an der Tür grüßte.
»Also doch«, sagte der General. »Es bleibt mir nicht erspart, gerade Sie zum Major zu machen. Ich habe es geahnt, daß Sie es sind …«
Hauptmann Schütze starrte den General an. Ganz aus der Tiefe seiner Erinnerung dämmerte ein Bild in ihm auf … Kaisermanöver 1913 … sein Hauptmann zu Pferde neben einer Kutsche, in der Amelia und Frau v. Perritz saßen. Ein in der Sonne blitzender Helm, ein Monokel … davor ein kleiner, schmächtiger Fähnrich, der sich vor den Damen sagen lassen mußte, daß er das größte Rindvieh der kaiserlichen Armee sei.
Hauptmann Stroy …
»Herr … Herr General …«, stotterte Schütze.
»So trifft man sich wieder, was? Ich habe Sie damals nach Ihrer Versetzung nach Goldap aus den Augen verloren. Wie geht es Ihrer Gattin … unserer Amelia?«
»Sehr gut, Herr General. Wir leben jetzt in Rummelsburg.«
»Kinder?«
»Drei, Herr General. Zwei Söhne … der Älteste ist Oberfähnrich, der zweite gerade eingezogen worden. Und eine Tochter. Sie macht gerade ihr Abitur.«
»Das freut mich. Grüßen Sie Ihre Gattin herzlichst von mir.«
»Jawoll, Herr General.«
Die Formalitäten der Majorsbeförderung waren schnell. Dann entließ General Stroy seinen neuen Stabsoffizier mit den Worten: »Warum haben Sie eigentlich so lange zum Major gebraucht, lieber Schütze?«
»Ich habe mich öfters um die Wahrheit gekümmert, Herr General –«
»Ach du meine Güte.« General Stroy schlug die Hände zusammen. »Nach dem Kaiser attackiert er den Hitler. Haben
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