Manöver im Herbst
stammelte Pierre.
Schütze sprang auf. »Mein Gott! Frage doch nicht soviel! Du hast deine Mutter verloren, du hast … hast deinen Vater verloren … deinen Großvater haben sie erschossen, nicht wahr …?«
»Ja –«, sagte Pierre leise.
»Hast du nicht genug Krieg und Leid und Grauen erlebt? Willst du nicht Schluß machen? Was willst du gegen uns ausrichten? Du und die anderen? Wir haben Polen besiegt, Norwegen und Dänemark halten wir besetzt. In Belgien, Holland, Luxemburg und Frankreich stehen unsere Truppen … Italien kämpft auf unserer Seite, Japan ist mit uns befreundet … von der Nordsee bis zum Stillen Ozean geht die Macht Deutschlands … was willst du da noch machen, mein Junge? Willst du dein Leben opfern?«
»Abwarten. Ihr werdet euch totsiegen.«
»Unsere Siege sind endgültig.«
»Es gibt ein altes Sprichwort: Der Tod der Diktatoren ist ihr Ruhm! – Ihr habt nicht die Kraft, eine Welt zu regieren. Nur, wenn ihr selbst regiert werdet, seid ihr glücklich. Ihr waret nie ein Herrenvolk – wie es euer Führer will – ihr waret immer ein Sklavenvolk. Ihr habt immer nur gehorcht. Ihr wurdet nur groß durch die Knute. Ihr habt nur nach Befehlen gelebt … soll das jetzt anders werden? Unmöglich. Ihr werdet immer so bleiben … heute, morgen, in hundert Jahren. Ihr müßtet keine Deutschen mehr sein, um nicht durch Befehle geleitet zu werden. Eure Freiheit ist Gehorchen. Hört ihr auf, zu gehorchen, brecht ihr auseinander.«
Heinrich Emanuel Schütze schwieg und starrte auf die Erde. Dann stand auch er von dem Pferdeleib auf, sah den jungen Leutnant lange an und nickte.
»Geh, mein Junge«, sagte er leise.
Pierre Bollet begriff nicht. Er blieb stehen.
»Herr Major –«
»Geh!« schrie Schütze. »Und wenn der Krieg zu Ende ist, dann schreibe an mich! Schütze. Kaserne Rummelsburg in Pommern.«
»Ich werde den Namen nie vergessen –« Pierre Bollet ergriff Schützes Hand. »Nie –«
»Das sollst du auch nicht …« Er hielt Pierres Hand fest. »Wem siehst du eigentlich ähnlich, mein Junge?«
»Meine Mutter sagte immer: Du wirst deinem Vater immer ähnlicher …«
»Aber ihre Augen hast du –«, sagte Heinrich Emanuel leise.
Er drehte sich herum und ließ den verblüfften Pierre stehen. Langsam ging er den Hügel hinab. Unten auf der Straße blickte er zurück. Pierre Bollet war nicht mehr da.
Aufatmend ging er weiter, dem Dorf zu. Es war ihm, als durchschritte er gar nicht die Wirklichkeit, als lebe er in einem phantastischen Traum, aus dem er jeden Augenblick aufgeschreckt werden konnte.
Eine Streife seines Bataillons kam ihm entgegen. Der Feldwebel machte stramm seine Meldung. Schütze hörte sie kaum … er nickte und ging weiter. Die Streife sah ihm entgeistert nach.
»Was ist denn mit dem Alten los?« murmelte der Feldwebel. Er sah an sich herunter, und eisiger Schreck durchfuhr ihn. Zwei Knöpfe seiner Uniform standen offen. Er hat es nicht gesehen, dachte er. Dem Himmel sei Dank. Vier Wochen Ausgehverbot, das wäre das mindeste gewesen. Ganz komisch sah der Alte aus … wie ein Mondsüchtiger.
Vor dem Stall blieb Schütze stehen. In den Boxen schimmerte Licht. Der Gefreite wartete auf die Rückkehr des Kommandeurgaules. Was soll ich sagen, dachte Schütze. Es wird eine schreckliche Schreiberei geben. Eine lange Frageliste. Warum, wo, wie und weshalb starb das Pferd? Fand eine veterinärmedizinische Untersuchung statt? Wer hat es erschossen?
Heinrich Emanuel ging in sein Quartier und legte sich angezogen aufs Bett. Ihm war alles gleichgültig. Die Meldung, die Schwierigkeiten, sein unmilitärisches Verhalten, die Konsequenzen, wenn die Wahrheit bekannt wurde, der ganze Krieg … alles, alles war ihm gleichgültig.
Jeanette hatte einen Sohn, dachte er. Er hat lange, braune Haare und ihre dunklen Augen. Pierre heißt er und ist Leutnant der Grande Armee.
Er schloß die Augen und faltete die Hände über der Brust.
Soustelle … das Zimmer hinter der Kommandantur. Das alte staubende Sofa … O du wilder Bär, hat Jeanette einmal gesagt. Ich könnte dich in meinen Armen zerdrücken. Wie schlank sie war, und wie unersättlich. An der linken Brust hatte sie einen kleinen Leberfleck. Ihn hatte er immer geküßt.
O wie jung waren wir damals. Wie herrlich jung. Und dumm. Und glücklich … Man muß dumm sein, um glücklich zu sein …
Ein hartes, rhythmisches Klopfen am Fenster weckte ihn. Noch war es Nacht. Sie war fahl geworden. Als sich Schütze aufgeschreckt im Bett
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