Manöver im Herbst
Sie verwundet?« fragte er.
»Sie haben mich in den Schenkel geschossen.« Er sah auf den erkaltenden Pferdeleib. Nach einigem Zögern siegte der Schmerz. Er setzte sich auf den Kadaver und streckte das verwundete Bein von sich. Schütze nahm ein Messer aus der Tasche und schnitt das Hosenbein auf. Er sah einen kleinen, blutenden Einschuß. Ein Ausschuß war nicht zu finden. Ein Steckschuß. Vielleicht im Knochen. Durch das Bein lief ein Zittern, wie bei einem Schüttelfrost. Die angeschossenen Nerven zuckten wild.
»Wie alt sind Sie?« fragte Schütze. Er hatte sein Verbandspäckchen aufgerollt und verband notdürftig den Einschuß.
»Dreiundzwanzig Jahre, Herr Major … Ich bin Leutnant der Armee. Nach dem Überrollen durch Ihre Truppen haben wir die Uniformen weggeworfen und wollten in den unbesetzten Teil durchsickern.«
»Und warum habt ihr auf mich geschossen?«
»Wir wollten Ihre Uniform, Herr Major. Einer von uns hätte sie angezogen. Es wäre leicht gewesen, dann durchzubrechen. Einem Major macht jeder Platz.«
»Wieviel seid ihr?«
Pierre Bollet sah den deutschen Offizier fragend an. »Verlangen Sie darauf eine Antwort, Herr Major?«
Heinrich Emanuel steckte das Ende des Verbandes unter die Binde und richtete sich auf. »Woher sprechen Sie so gut deutsch?«
»Meine Mutter hat es mich gelehrt. Sie konnte es noch von 1914 her.«
»Ihre Mutter.« Heinrich Emanuel setzte sich neben Pierre auf den toten Pferdeleib. Seine Hände waren heiß, als er sie zusammenlegte. »Sie werden Ihre Mutter wiedersehen. Der Krieg ist für Sie zu Ende –«
Der junge französische Leutnant senkte den Kopf. Die langen braunen Haare fielen über sein schmales Gesicht wie ein seidener Vorhang. Durch Schütze fuhr es wie ein neuer Schlag. So sieht Giselher aus, wenn er nach unten blickt. Genau so.
»Meine Mutter ist vor zwei Wochen gestorben …«, sagte Pierre leise. »Deutsche Stukas … sie trafen nicht die Panzer, sondern das Haus. Keiner lebte mehr. Ich habe sie noch ausgegraben … Dann kamen die deutschen Panzer. Ich habe sie liegengelassen … neben dem Haus, auf der Straße …« Er schlug die Hände vor die Augen.
Schütze saß steif auf dem toten Pferd. Sein Herz klopfte, als sei es eine Riesentrommel. Und bei jedem Paukenschlag schienen zehn Liter Blut durch die Adern zu rasen.
»Und – Ihr Vater –?«
Der junge Leutnant schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Vater mehr. Er ist 1916 gefallen. Vor meiner Geburt. Ich kenne ihn gar nicht …«
»Hatten Sie kein Bild von ihm?«
»Nein. Mutter sagte immer: Er war ein schöner Mann. Jung, verträumt, voller Ideale. Sie lebten damals in Soustelle –«
»Soustelle –«, wiederholte Schütze dumpf.
»Sie mußten dann weg. Meine Mutter – Jeanette hieß sie – mußte flüchten. Ihr Vater war ein Führer der Franktireurs.«
Durch Heinrich Emanuels Körper lief ein Zittern. Jeanette, dachte er. Die Nacht in dem Haus hinter der Fabrik … die Tage und Nächte in der Kommandantur von Soustelle … bis ich Weihnachten 1915 zu Amelia fuhr. Als ich zurückkehrte, war nur noch der Duft deiner Haare in den Kissen und die Erinnerung an seliges Flüstern im Raum … Wie habe ich dich gesucht … mit der ganzen Verzweiflung meiner zweiundzwanzig Jahre … Bis ich die Hoffnung, dich zu sehen, aufgab und hinausging nach Verdun.
Und nun sitzt Pierre neben mir … dein Pierre … unser Pierre … auf einem toten Pferdeleib sitzen wir und haben uns als Feinde beschossen. Und du liegst bei Epernay am Straßenrand, zerfetzt von einer deutschen Bombe. Nie hast du dem Jungen erzählt, wer sein Vater ist. Du hast gut daran getan. Du warst zu stolz, zu gestehen, daß du einmal einen deutschen Feind liebtest. Und ich … ich bin jetzt zu feig, zu sagen, wer ich bin …
Er tastete nach der Hand des jungen französischen Leutnants und drückte sie.
Verwundert sah ihn Pierre Bollet an.
»Willst du zurück zu deinen Leuten?« fragte Schütze leise. »Oder willst du in Gefangenschaft? Der Krieg ist dann für dich zu Ende. Du wirst ihn überleben …«
Pierre Bollet erhob sich, als habe das Pferd ihn getreten. Er schnellte fast hoch.»Was soll das heißen?« fragte er heiser.
»Frage nicht, mein Junge.« Heinrich Emanuel sah ihn nicht an. Er konnte ihn einfach nicht ansehen. Er hätte die Arme ausbreiten und ihn an sich ziehen müssen. Jeanettes Sohn … Eine tiefe Rührung überkam ihn. »Entscheide dich … geh oder bleib …«
»Ich bin doch Ihr Gefangener, Herr Major«,
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