Manöver im Herbst
das Hoheitsabzeichen. Darunter das Wort: Führerhauptquartier.
Mit blassem Gesicht las der General die wenigen Zeilen. Dann sah er groß auf die beiden stummen SS-Offiziere, auf die beiden grinsenden Angeklagten und zum Tode Verurteilten, nahm die Schriftstücke des Prozesses und hob sie hoch. Demonstrativ zerriß er sie vor den Augen aller.
»Meine Herren«, sagte der General gepreßt zu seinen erstarrten Offizieren, »der Führer hat soeben die beiden Urteile aufgehoben. Hier ist der Befehl. Wir können gehen –«
Jeder begriff den Doppelsinn der Worte. Der Major und Ankläger tat es seinem General nach. Er zerriß seine Akten und warf sie auf den Boden. Heinrich Emanuel Schütze starrte die SS-Offiziere an. Über sein Gesicht zuckte es.
»Wo bleibt hier ein Recht?« sagte er laut. »Wie kann man ein Urteil aufheben, bevor man es kennt? Mit welcher Begründung hat der Führer –«
Der SS-Offizier, der Schütze am nächsten stand, sah ihn kopfschüttelnd an.
»Haben Sie sechs Jahre lang geschlafen, Herr Hauptmann?« sagte er arrogant. »Sie wollen vom Führer eine Erklärung seiner Befehle? Das ist doch wohl das Widersinnigste, was ich bisher gehört habe.«
Einträchtig, zufrieden, den Triumph auskostend, verließen die vier den Gerichtsraum. Zwei Mörder und zwei elegante, schwarz-graue Offiziere.
Der General schwieg, bis die Tür hinter ihnen zufiel. Die Degradierung zu Komödienfiguren war den Offizieren wie ein Schlag ins Gesicht. Diese Demonstration der Parteimacht löste mehr als Empörung aus. Sie gebar den Haß.
»Meine Herren«, sagte der General endlich. Er sprach mühsam, seine Stimme zitterte. »Ich glaube, Sie haben wie ich begriffen. Ich überlasse es Ihnen, daraus die Folgerungen zu ziehen.«
Als einziger blieb Schütze zurück, als die anderen schon gegangen waren. Er starrte auf das Papier, das der General hatte liegenlassen.
»Ich hebe hiermit im Namen des Volkes die beiden Urteile gegen den SD-Mann Franz Mitulka und den SD-Mann Emil Worreck auf und befehle die Überweisung der Beklagten an ein sich noch zu konstituierendes SS-Gericht. Adolf Hitler.«
Heinrich Emanuel Schütze las es immer wieder. Im Namen des Volkes –
Mein Gott, dachte er plötzlich. Wenn alles, was geschehen ist, geschieht und geschehen wird, im Namen des Volkes getan wird … wir werden eines Tages eine Schuld tragen, die nie mehr abzudecken ist. Nie mehr.
*
Am letzten Tag des Polen-Feldzuges wurde Christian-Siegbert verwundet.
Nicht schwer … nur ein Fleischschuß in die Schulter. Er lag im Lazarett von Schneidemühl. Heinrich Emanuel erreichte die Nachricht erst eine Woche später. Er kontrollierte mit seiner Kompanie drei halbzerstörte Dörfer und half mit, die zurückkehrenden Flüchtlinge wieder seßhaft werden zu lassen. Es wurde aufgeräumt, ausgebessert, organisiert. Einige Monate sorglosen Besatzungslebens hatten begonnen. Man lag viel in der Sonne und ließ sich braten, man suchte Läuse und Flöhe, stellte den polnischen Mädchen nach und wunderte sich, daß ein Krieg, der beim Beginn so niederdrückende Stimmungen erzeugt hatte, so lustig und vor allem so schnell sein konnte.
Hauptmann Schütze bekam Urlaub und fuhr nach Schneidemühl. Amelia war schon da, ebenfalls Uta und Giselher.
Mit Stolz zeigte Christian das schwarze Verwundetenabzeichen, als Schütze das Lazarettzimmer betrat.
»Jetzt bist du erst Soldat«, sagte Heinrich Emanuel und klopfte seinem ältesten Sohn auf die Wange. »Die Feuertaufe ist der Beginn der Mannbarkeit.«
Giselher sah zu seiner Mutter hinüber. Sie schüttelte den Kopf. Sei still, sollte es heißen. Der Vater ist stolz … da sagt er manches, was dumm klingt. Hinter diesen Phrasen verbirgt er doch nur sein weiches Herz. Er hat bestimmt wie wir alle gezittert, innerlich, als er die Nachricht bekam. Jetzt bezwingt er seine Rührung durch tönende Worte.
Giselher blickte trotzig von der Mutter weg.
»Wenn der Schuß zehn Zentimeter tiefer gesessen hätte, gäbe es keine Mannbarkeit mehr«, sagte er heiser.
Heinrich Emanuel fuhr herum. Sein Gesicht war plötzlich bleich und wie von den Knochen abgelöst.
»Du hast eine dumme Art, Sinnloses zu reden.«
»Wäre es nicht möglich gewesen?«
»Es ist aber nicht so. Halte dich an Tatsachen.«
»Hast du die Anzeigen in den Zeitungen gelesen?« Giselher griff zum Nachttisch Christians. Er nahm eine der vielen Zeitungen weg, die dort lagen und faltete sie auseinander.
Eine ganze Seite war dicht bedruckt mit schwarz
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