Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manöver im Herbst

Manöver im Herbst

Titel: Manöver im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Ihnen.«
    »Der Krieg ist für Sie zu Ende, das ist sicher.«
    »Nein.« Schütze schüttelte den Kopf. »Ich habe noch einen Sohn an der Front …«
    Durch Schneestürme und Eiswinde, stundenlang in riesigen Verwehungen steckend, dreimal durch Partisanen beschossen und zweimal aus halbzerfetzten Zügen umgeladen, neun Tage lang durch eine entfesselte, gnadenlose Natur fuhr Schütze zurück in die Heimat. Bei jedem Verbandwechsel beobachtete er das Mienenspiel der Schwestern oder des jungen Unterarztes, der die leichteren Fälle betreute. Drei Wagen weiter – abgesperrt für alle durch den Lazarettzug Gehenden – lagen in Einzelabteilen kahlgeschorene, lallende, lachende, herumspringende, tobende oder stumpf vor sich hinstierende menschliche Wracks. Hirnverletzte. Wahnsinnig geschossen. Verblödet. In den Nächten, in denen der Zug in den riesigen Verwehungen steckenblieb, bis das Zugbegleitkommando mit Flammenwerfern den Schneeberg weggebrannt hatte, konnte man sie schreien hören. Grell, tierisch, unmenschlich. So brachte man sie ihren Müttern zurück. In stolzer Trauer –
    In Frankfurt/Oder wurde Schütze ausgeladen. Der Lazarettzug rollte weiter. Die Gesichtsverletzten sollten nach Würzburg kommen. Die Hirnverletzten – Man schwieg darüber. Sie werden irgendwo abgeholt, hieß es. Irgendwo …
    Im Reservelazarett Frankfurt/Oder bekam Schütze zum erstenmal Verbindung mit Amelia. Sie war völlig ahnungslos. Drei Briefe, die er aus Rußland geschrieben hatte, waren noch nicht angekommen. Vielleicht kamen sie nie an … irgendwo zwischen Moskau und Rummelsburg lagen sie in einem der vielen Postsäcke, die im Schneesturm verwehten und im Frühjahr auftauen würden und verfaulten. Wer kümmert sich noch um verlorene Postsäcke, wenn vier Armeen erfrieren –?
    Amelia weinte vor Glück, als sie Heinrich Emanuels Stimme hörte. »Du bist da«, sagte sie immer wieder. »Du bist aus Rußland heraus. Ob mit oder ohne Zehen … Heinrich, was macht das aus. Du bist da, du lebst. Ich habe dich wieder.« Dann stockte sie. Schütze umklammerte den Hörer und preßte die Muschel fest an sein Ohr.
    »Was … was ist, Amelia?« Seine Stimme wurde lauter. »Warum schweigst du plötzlich? Ist etwas? Ist etwas mit Giselher –?« Nein, bloß das nicht, dachte er. Mein Gott, mein lieber, lieber Gott … das nicht. Laß es nicht sein. Laß es nicht sein. Laß es nicht sein.
    »Giselher hat geschrieben. Er ist auch verwundet …« Schütze atmete auf. Er fühlte, wie er schwach wurde. Das Telefon war schwer wie ein Sack Blei.
    »Verwundet«, sagte er fast glücklich. »Wo hat's ihn denn erwischt?«
    »Ich … ich weiß es noch nicht. Er hat auch nicht selbst geschrieben. Eine Schwester hat für ihn geschrieben. Er hat diktiert. ›Ich bin noch zu schwach, um selbst zu Schreiben‹, hat er diktiert.«
    »Und wo ist er?«
    »In Borissow. Nächste Woche soll er nach Deutschland kommen.« Die Stimme Amelias brach wieder. Sie weinte, aber es war ein anderes Weinen als das des Schmerzes. »Ich bin so glücklich«, sagte sie unter Schluchzen. »Ich habe euch alle wieder …«
    Alle, dachte Schütze schaudernd. Sie spricht nicht von Christian. Sie weiß, wie tief diese Wunde in mir sitzt. Gute, arme Amelia …
    Drei Tage später wurde Heinrich Emanuel von Frankfurt/ Oder abtransportiert. Es hatten sich keine Komplikationen eingestellt. Zwar eiterten die Amputationsstümpfe, aber der Frost hatte sich nicht weiter in den Fuß gefressen. Die Blutzirkulation war zurückgekehrt. Die Nerven reagierten wieder. Schütze merkte es an den stechenden Schmerzen, die vom Bein hinauf bis an sein Herz zuckten.
    »Sie haben Glück, Herr Major«, sagte der Stabsarzt, als er Schütze bis zum Sanka begleitete und ihm, bevor die Tür verriegelt wurde, noch einmal die Hand drückte. »Ihr Antrag ist durchgekommen. Sie sollen nach Schneidemühle kommen. Von dort wird man Sie wohl zur ambulanten Behandlung nach Hause entlassen, sobald die Wunden sich geschlossen haben.« Er gab Schütze noch einen freundlichen Klaps aus den Arm. »Und kv sind Sie auch nicht mehr. Ein guter Rat: Sehen Sie zu, daß Sie irgendwo Stadtkommandant werden. Oder Chef eines Ersatzhaufens. Möglichst in Frankreich.«
    Er lachte, winkte noch einmal und schob die Tür des Sankas zu. Ratternd, schwankend, über Schlaglöcher hüpfend, wurde er zum Bahnhof gefahren. Ein paarmal stieß er mit dem verwundeten Fuß an die Wagenwand, biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien und

Weitere Kostenlose Bücher