Manöver im Herbst
bis zur Unendlichkeit reichenden grauen Himmel. Es war, als schütteten alle Sterne und fernen Welten ihren Schnee über Rußland aus. Die deutschen Armeen versanken im weißen Meer. Die Motoren froren ein, die Verschlüsse der Geschütze mußten vor jedem Schuß aufgetaut werden, die Hände froren an den Gewehrkolben fest.
Wie eine alles zermalmende Riesenfaust traf der Winter die deutschen Divisionen. Durch die Feldstecher sah man die Vorstädte Moskaus. Aber die Füße froren fest. Es gab keine Wintermäntel, keine Pelze, keine Schals, keine Handschuhe, keine Ohrschützer … Es gab nur weiße Tarnanzüge, Versprechungen, ein verzweifeltes Einwühlen in die Erde. Sechs deutsche Armeen erfroren.
Über dem toten Land fiel kein Schuß mehr. Aber die Lazarette füllten sich, als seien Riesenheere aufeinandergeprallt. Arme, Beine, Hände, Nasen, Ohren, Zehen wurden amputiert, wimmernd lagen auf Strohschütten Regimenter erfrierender Soldaten. Und der Frost kletterte weiter … von Nacht zu Nacht … 44 Grad Kälte … und nur dünne Sommermäntel, fadenscheinige Handschuhe, aus den Uniformen Gefallener geschneiderte Fußlappen, Ohrschützer, Mundlappen … das Gespenst Napoleons schlich durch die deutschen Armeen.
In einem solchen Winter zerbrach die ›Grand Armee‹, erfror der Kaisertraum Napoleons.
Bis zur völligen Erschöpfung blieb Heinrich Emanuel bei seinem Bataillon. Er hatte sich in die Erde eingegraben. Als letzter nahm er sich einen der kleinen eisernen Öfen, die mit den Verpflegungsschlitten nach vorn gebracht wurden. Erst, nachdem alle Kompaniebunker einen Ofen hatten, stellte er in seinen Bataillonsbunker den eisernen Kessel.
Jeden Tag ging er seine Kompanien ab. Stundenlang stand er vorn in einem der MG-Nester und starrte hinüber zu den russischen Linien. Er sah, wie sie ihre Gräben bauten, wie riesige Holzladungen herangeschafft wurden, wie eine Stellung entstand aus Leibern und Waffen. Rettet Moskau, hatte Stalin gerufen. Jeder Tag, an dem die Deutschen stehen, ist ein Sieg für uns!
Eines Tages spürte Schütze ein Jucken in den Zehen. Am Abend zog er die Stiefel aus, rieb die Zehen, bis sie feuerrot waren. Aber am Morgen waren sie farblos, graugelb. Er drückte auf den Nagel, auf die Gelenke und spürte kaum etwas. Wie taub waren sie. Nervenlos. Blutleer.
Schütze begann von neuem, sie zu reiben. Er tat es heimlich, wenn sein Adjutant und die Schreiber schliefen. Am fünften Tage konnte er nicht mehr auftreten, durch sein linkes Bein kroch die Gefühllosigkeit immer höher. Der Leutnant, der an diesem Abend das Bein seines Majors sah, verfärbte sich und rannte zum Telefon.
»Sofort einen Schlitten für den Herrn Major!« schrie er. »Ja, zum Hauptverbandsplatz. Nein, keine Verwundung. Erfrierung. Kommen Sie sofort …«
Mit den Essenholern wurde Heinrich Emanuel in einem Schlitten nach hinten gebracht. Noch beim Abfahren schimpfte er mit seinem Adjutanten. »Wegen solch einer Lappalie!« rief er. »Das geht vorüber! Was soll ich im Lazarett? Lächerlich! Wer hat Ihnen überhaupt den Befehl gegeben, anzurufen?«
In Decken eingerollt, sah er vom Schlitten zurück auf seinen Bataillonsbefehlsstand. Der junge Leutnant stand am Bunkereingang und winkte ihm zu. Der Führer des Bataillonstrupps verteilte die mitgebrachte Post an die einzelnen Kompaniemelder. Drei Kisten Schnaps standen im Schnee vor dem Bunkereingang … Ersatz für die fehlenden Wintermäntel und Filzstiefel.
Im Lazarett von Mohaisk wurden Heinrich Emanuel zwei Zehen des linken Fußes amputiert. Sie hatten sich schon schwärzlich gefärbt.
»Das Bein bleibt dran, Herr Major«, sagte der Arzt, als Schütze aus der Narkose erwachte und erschrocken an sich hinabtastete. Eine lange Schiene, ein dicker Fußverband, ein merkwürdiges, schmerzhaftes Jucken in den Zehen.
»Was … was haben Sie weggenommen?«
»Zwei Zehen. Mit einem guten orthopädischen Schuh merken Sie gar nichts.«
»Also … ein Krüppel …«, sagte Schütze leise.
»Seien Sie froh, daß Sie aus dem Winter 'rauskommen. Mit dem nächsten Lazarettzug geht's ab in die Heimat.«
Heinrich Emanuel tastete wieder an seinem Bein entlang. Sein Atem flog.
»Sie verheimlichen mir etwas, Herr Stabsarzt. Seien Sie ehrlich … haben Sie den Fuß amputiert?«
»Zwei Zehen. Ich schwöre es Ihnen. Nur –«
»Nur –?«
»Es darf kein Frostbrand 'reinkommen. Wir haben soweit ins Gesunde operiert, wie es geht.«
Major Schütze streckte sich. »Ich danke
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