Manöver im Herbst
legte dann ihren Kopf auf seine Schulter.
»Mein armer Heinrich«, sagte sie leise. »Mein armer, armer … Was haben sie uns angetan … Weine … komm, wein dich aus … Komm, komm ganz nahe an mich heran … Hier kannst du weinen, du bist doch bei mir … niemand sieht dich, nur ich … O Heinrich, unser Junge … unser Junge … komm, weine alles weg, was in dir ist –«
Und sie tröstete ihn, streichelte seine weißen Haare, küßte ihn, bettete seinen tränennassen Kopf auf ihr Kissen und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie hörte sein Herz schlagen und spürte das Zittern, das durch seinen Körper flog. Da lag sie ganz still und streichelte nur sein Gesicht, immer und immer wieder, bis er ruhiger wurde und sein Schluchzen einschlief unter ihren tröstenden Händen.
*
Am 2. Oktober 1941 spülte eine verheerende Welle die russischen Armeen in einen Strudel der Vernichtung. Drei deutsche Armeen der Heeresgruppe Mitte – die 2. und 4. Armee und die 4. Panzerarmee, unterstützt von den Luftflotten 2 und 4, stürmten schlagartig beiderseits Roslawls gegen die in ausgebauten Stellungen hockenden Sowjets und rissen eine riesige Bresche in die Stellungen. Zwei Kessel, wie sie bisher in keinem Krieg entstanden waren, schnitten die sowjetischen Truppen von allem ab, was sie retten konnte. Im Süden Brjansk, im Norden Wjasma … Pausenlos hämmerten die deutschen Geschütze in die Massierungen von Leibern und Fahrzeugen. Ohne Unterbrechung regnete der Tod aus den Bombenschächten vom Himmel. Ohne Rast, ohne Minuten des Atemschöpfens, zogen die deutschen Divisionen die Ringe enger.
Am 13. Oktober zeigte sich das ganze Ausmaß dieser das Herz der sowjetischen Streitkräfte treffenden Offensive: 67 Schützen-, 6 Kavallerie- und 7 Panzerdivisionen wurden in den Kesseln gefangengenommen. Ein Riesenwurm von 663.000 Gefangenen zog durch die Steppen und lag auf dem nackten Boden. 1.242 Panzer wurden erbeutet. 5.412 Geschütze aller Kaliber reckten ihre toten Rohre in den Herbsthimmel. Zu Tausenden verhungerten die Gefangenen. Der Sieg war so ungeheuer, daß die Verwaltung zusammenbrach. Woher sollte man plötzlich das Essen für 600.000 Mann bekommen?
Major Schütze ratterte mit seinem Kübelwagen seinem Bataillon voraus. Die breite Rollbahn lag vor ihm … die Lebensader Rußlands, die Aorta des sowjetischen Herzens … die Rollbahn Smolensk-Moskau.
Gleich nach der Rückkehr aus seinem Sonderurlaub hatte ihn der Versetzungsbefehl erreicht. Mit drei Divisionen wurde er aus Frankreich herausgezogen und nach Rußland transportiert … in Tag- und Nachtfahrten, in schwankenden Viehwagen. Hinter Warschau wurden zwei mit Sand gefüllte Flachwagen vor die Züge gekoppelt. Partisanen, sagte man. Sie legen Minen zwischen die Gleise. Sie bauen Hindernisse aus Stämmen. Sie reißen die Schienen aus dem Schotter. Wenn man sie aufstöbert und reihenweise an den Bäumen aufhängt, sterben sie mit einem Hochruf auf Stalin.
In Smolensk bekam Heinrich Emanuel ein Bataillon. Er gehörte jetzt zur 4. Armee unter Generalfeldmarschall v. Kluge. Nördlich von ihm stießen die schnellen Verbände der 4. Panzerarmee unter Generaloberst Guderian unaufhaltsam nach Moskau vor. Es war ein Siegeslauf, den man in Berlin schon als Zerschlagung der sowjetischen Macht feierte.
Für Major Schütze war Rußland nicht mehr ein feindliches Land. Es hatte ihm seinen ältesten Sohn genommen … Er haßte es, so glühend, so bedingungslos, so blind, daß er darüber seinen Haß gegen das Regime vergaß, für das er jetzt durch die Weiten der Steppen raste, den goldenen Zwiebeltürmen Moskaus entgegen.
Für ihn war dieser Krieg jetzt eine Notwendigkeit. Er dachte nicht mehr, er wollte einfach nicht mehr denken. Hier, in dieser Erde, liegt mein Junge. Irgendwo … bei Bialystok. An der Mauer einer Fabrik, schrieb der Bataillonskommandeur. Ein sowjetisches Explosivgeschoß hatte ihm die Brust aufgerissen. Er war sofort tot. Er hat keine Schmerzen mehr gehabt. Nach seinem Tode hatte man ihm das EK I verliehen … Mit ihm auf der Brust wurde er begraben, mit allen militärischen Ehren.
Ein winziges Stück der Feuerwalze, die sich auf Moskau zuwälzte, alles vernichtend, die Erde verbrennend, die Menschen zerfetzend, so raste Major Schütze an der Spitze seines Bataillons über die verhaßte, russische Erde.
Bis der Winter kam. Ein Winter, der Rußlands Leben rettete. Nach einigen Wochen grundlosen Schlamms kam die Kälte, kamen Gebirge von Schnee aus dem
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