Manöver im Herbst
Augen loderten Flammen, er riß sie an sich und küßte sie. Wild, wie in jungen, stürmischen Jahren … er küßte ihre Augen, die Nase, den Mund, die Halsbeuge, den Brustansatz … er war ganz irr vor Küssen. Dabei umklammerte er sie, daß sie nach Luft rang; sie zerwühlte seine weißen Haare, riß an ihnen, grub die Nägel ihrer Finger in seinen Rücken, daß er es durch den dicken Stoff des Uniformrockes spürte.
»Ich freue mich so …«, stammelte sie. »Ich freue mich ja so wahnsinnig … so ganz, ganz verrückt freue ich mich …«
»Ich auch. Ich auch!« Er ließ Amelia los und humpelte im Zimmer herum. Er wußte nicht, was er tun sollte, aber irgend etwas mußte er tun. Und wenn ich die Möbel kaputtschlage, dachte er. Oder die Fensterscheiben. Oder die Füllungen aus dem Sofa reiße … irgend etwas muß ich tun. Etwas Verrücktes, wie ein wilder Junge.
»Wollen wir es den Kindern sagen?« fragte er.
»Noch nicht. Oder willst du?«
»Nein … sag du es ihnen …«
»Nein. Du.«
»Frauen können es besser –«
Man einigte sich, daß Amelia es Uta sagen sollte, während Heinrich Emanuel die Aufklärung Giselhers über den neuen Familienstand übernahm.
Giselhers Verwundung war schwer, aber nicht lebensgefährlich. Eine MG-Garbe hatte ihn in den Bauch getroffen. Fünf Schüsse hatten seinen Körper durchschlagen, ohne die Knochen oder gar das Rückgrat zu verletzen. Es war fast wie ein Wunder. Er lag in einem Lazarett in Neuruppin. Man hatte ihn zum Unteroffizier befördert, das Verwundetenabzeichen verliehen, zum EK II eingereicht … alles Dinge, die Giselher wenig interessierten oder gar erfreuen konnten. Die Monate in Rußland und Polen hatten ihn noch verschlossener und abwehrender gegen alles gemacht, was eine Uniform trug, was kommandierte und hinter einem Schellenbaum hermarschierte mit durchgedrücktem Kreuz und wegwerfenden Beinen.
Der Krieg war auch für Giselher zu Ende. Vielleicht mußte er später einmal Gefangene bewachen oder ein Magazin. Vielleicht aber wurde er auch ganz vom ›Dienst am Volke‹ befreit und konnte studieren. Journalismus, dachte er. Heute nennt man es ja Zeitungswissenschaft. Das wäre etwas. Als Journalist hat man den Puls seiner Zeit unter den Fingern. Man sieht die Krankheiten der Gesellschaft. Und man kann die Wahrheit sagen.
So dachte Giselher Schütze. Noch kannte er ja nicht die deutsche Version der Pressefreiheit, noch ahnte er etwas davon, daß gerade die Pressefreiheit von jeher das Verhaßteste in Deutschland war. Nicht gestern, nicht heute … überhaupt immer.
Die ›Aufklärung‹ der Kinder über den neuen Rhythmus, der in den Schützenhaushalt ab Oktober 1942 einziehen würde, war schneller und reibungsloser, als es sich die Eltern gedacht hatten.
Uta sagte bloß: »Fein, Mama. Ich freue mich so für dich. Ich will ja sowieso Kinderärztin werden –«
Giselher schüttelte den Kopf, als Schütze ihm bei einem Besuch in Neuruppin sein ›Geständnis‹ machte.
»Aber Papa«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Wo bleibt deine Erfahrung –«
»Lausejunge!« rief Schütze. Dann lachten sie gemeinsam und drückten sich die Hand. Wie ein junger, strahlender Ehemann in den Flitterwochen fuhr Heinrich Emanuel nach Rummelsburg zurück.
Das zweite, einschneidende Ereignis dieses halben Jahres war der plötzliche Tod des alten Barons v. Perritz.
Er starb völlig unerwartet, obwohl er mit 83 Jahren und biblisch weißen Haaren und Bart wie ein Überbleibsel aus einer sagenhaften Zeit auf Gut Perritzau residierte und schon gar nicht mehr auf dieser durcheinandergeratenen Welt war. Er ignorierte alle Verfügungen der Reichsbauernschaft und des Reichsnährstandes, baute das an, was er für gut hielt, nannte alle Kontrolleure Hohlköpfe und Idioten und warf sogar einmal den Gaubauernführer von seinem Gut. Merkwürdigerweise ließ man ihn in Ruhe, schickte keine Gestapo zu ihm oder belegte ihn mit Strafen. Er war ein Fossil geworden, ein Museumsstück, das Natur- und Denkmalschutz erhielt.
Plötzlich war er tot. Mitten auf dem Feld, umgeben von sechzig polnischen Gefangenen, die Kartoffeln setzten. Er sah noch einmal in die Sonne, als wolle er sie fragen, ob es wirklich Zeit sei, zu gehen … Dann fiel er um und lag leblos zwischen den Körben mit Saatkartoffeln.
Amelia, Heinrich Emanuel und Uta fuhren zum Begräbnis. Die Testamentseröffnung war drei Tage später. Amelia erbte ein Viertel des Gesamtvermögens und das lebenslange Wohnrecht für
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