Manöver im Herbst
Heinrich Emanuel immer im Manöver leben. Immer. Auch horizontal. Sie kannte das.
Amelia hob die Schultern. Es konnte Resignation sein. Oder fror sie? Wehte sie das Unerbittliche an? Das Unausweichbare? Sie hatte 1914 einen Leutnant geheiratet. Sie hatte die silbernen Tressen geliebt. Sie war stolz auf ihren Mann. Dann hatte der Krieg sie verändert, die 1,5 Millionen Toten, die Millionen Verwundeten und Krüppel, die Inflation, die Not, die Angst vor dem Morgen. Sie war reif geworden, so wie ein Stahl hart wird, wenn man ihn ausglüht. Sie hatte sehen gelernt und erkennen.
An Heinrich Emanuel war dies alles vorbeigeflossen wie ein brackiges Wasser. Jetzt, wo er einen Flecken sauberes Wasser sah, wollte er wieder hineinspringen und sich baden. Man konnte es ihm nicht übelnehmen. Er war erzogen worden mit dem ›Silberstreif am Horizont‹, wie Wilhelm II. die Zukunft Deutschlands einmal nannte. Daran änderte auch der Krieg nichts. Auch nicht die Millionen Toten. Sie gehörten zum Geschäft. Sie standen auf der Verlustseite der Bilanz. Verluste gibt es in jedem Beruf. Wie sagte doch Walter Flex in seinem ›Wanderer zwischen beiden Welten‹: »Leutnantsdienst tun, heißt seinen Leuten vorleben, das Vorsterben ist dann wohl einmal ein Teil davon …«
»Gib mir ein Blatt Papier«, sagte Amelia leise.
Heinrich Emanuel ergriff ein Blatt, rannte zu ihr an den Tisch, nahm ihr den Strumpf ab, an dem sie gerade stopfte, rannte zurück, holte Tinte und Federhalter, tauchte die Feder ein und gab ihn ihr. Dann sah er ihr über die Schulter zu, was sie schrieb. Sie schrieb ganz einfach. Mit großen, steilen Buchstaben. Eine unverkennbare Perritzschrift:
»Lieber Onkel Eberhard.
Heinrich Emanuel und mir geht es nicht gut. Von Papa wirst du es ja wissen. Er kann nicht helfen; aber du kannst es. Gibt es eine Möglichkeit, Heinrich wieder einzustellen? Wie du weißt, ist er als Hauptmann abgegangen …«
Heinrich Emanuel runzelte die Stirn und kratzte sich an der Nase.
»Kann man so einem General schreiben?« unterbrach er Amelias Schrift. Sie sah kurz zu ihm auf.
»Er ist in erster Linie mein Onkel –«
»Das schon. Aber hier – ›Heinrich wieder einzustellen …‹ Das klingt, als wenn man dem Arbeitsamt schreibt.«
»Du willst ja auch Arbeit haben …«
»Hier geht es um den Dienst am Volke.«
»Ist das keine Arbeit?«
»Und hier – ›ist als Hauptmann abgegangen …‹ Klingt es nicht besser: Seine Karriere wurde durch Reaktionäre unterbrochen …«
»Warum? Man hat dich hinausgeworfen. Das ist doch die Wahrheit. Ein blaues Auge hat man dir geschlagen …«
Heinrich Emanuel seufzte und wandte sich ab.
»Du bleibst immer nur ein Zivilist«, sagte er.
Dann ließ er Amelia gewähren. Er schickte den Brief so, wie er war, ab. Ohne Korrektur. Er las ihn überhaupt nicht durch. Er wußte, daß er dann Hemmungen haben würde. Auch ein Onkel bleibt immer ein General, wenn er General ist. Unter Soldaten ist der Dienstrang maßgebend … das persönliche Verhältnis ist untergeordnet.
Er wartete vier Tage … sechs Tage … zehn Tage.
Er trug weiter Margarine aus, verbot Christian-Siegbert, mit den Dickbert-Kindern auf der Straße zu spielen, und opferte damit einen wöchentlich 5-Pfund-Kunden dem Wehrgedanken. Am elften Tag resignierte er.
»Dein Brief – ich habe es gleich gesagt – war zu unkorrekt. Einfach zu schreiben: Lieber Onkel Eberhard. Einem Generalmajor. Ich sage dir eins: Meine Karriere ist hin! Ich werde ewig Margarine austragen müssen.«
Am 14. Tag kam ein Brief aus Münster.
Der Kommandeur des Wehrkreises VI.
Als Heinrich Emanuel Schütze das Kuvert aufschlitzte, saß er in strammer Haltung am Küchentisch …
*
»Sie also sind es?«
Generalmajor v. Perritz sah auf Schütze, der, in drei Schritten Abstand, die Hände an den Nähten der zivilen Hose, vor ihm stand. Wie damals der Kaiser, dachte Schütze erschrocken. Auch er sagte: »Also Sie sind es?« und betrachtete ihn dabei wie ein apfelndes Pferd. Wenn der Onkel General so etwas sagte, bedeutete das nichts Gutes.
»Ich erlaube mir, es zu sein«, antwortete Schütze heiser. »Ich bitte um Verzeihung, daß meine Frau an Sie einen solch unkorrekten Brief schrieb, aber –«
»Was aber?« Generalmajor Perritz setzte sich und winkte Schütze, es auch zu tun. Heinrich Emanuel ließ sich auf den äußersten Rand eines Sessels nieder, mit hohlem Kreuz, angelegten Armen, bereit, bei der nächsten Anrede wieder Hochzuschnellen. »Ich habe
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