Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
könnte. Luciens Regierung steckt in einer tiefen Krise. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als den jetzigen, um eine Rückkehr ernsthaft in Erwägung zu ziehen.«
»Eine Rückkehr?«, fragte Ryan. »Ist das dein großa r tiger Plan? Gerade als ich anfange, mich einzugewöhnen, sollen wir das Land für immer verlassen?«
Aldebaran reichte ihm ein Buch. »Lies das! Dies sind die letzten Berichte aus der Stadt. Die Lage wird zune h mend ernster. Vielleicht sollten wir die Astronomie und das Bogenschießen ruhen lassen und uns auf die derzeit i ge Situation konzentrieren.«
Ryan nahm das Buch wortlos entgegen.
Aldebaran ging zu seinem Schreibtisch, blieb dort j e doch stehen und sah in den leeren Glaskasten vor sich. »Was gibt es für eine Alternative? Du musst zurückke h ren, Ryan. Wir können nicht für immer hierbleiben. Und trotzdem …«
»Ich weiß, Onkel«, sagte Ryan und schlug das Buch auf.
Anna konnte in dieser Nacht schlecht einschlafen, o h ne die Halskette in ihrer Hand. Sie versuchte, sich ihr altes Leben zu Hause vorzustellen, wo sie bereits den Verkehrslärm gehört hatte, wenn sie um fünf Uhr mo r gens aufgestanden war, um noch vor der Schule auf dem Sportplatz zu trainieren, weil sie sich mehr als alles and e re wünschte, Tänzerin zu werden. Dieses alte Leben schien nun in weiter Ferne zu liegen. Aber als sie endlich einschlief, träumte sie noch immer von denselben Di n gen, so als hätte sich nichts verändert. Sie träumte davon, wie ihre Famili e z u ihr hochschaute, während sie auf e i ner von weißen Lichtern umsäumten Bühne tanzte. Sie konnte sie alle sehen – die Verwandten, die sie kannte, doch auch den schemenhaften Mann und das Kind, die immer da waren. Nur dass dieses Mal ihre Gesichter ganz deutlich zu erkennen waren. Das Gesicht des Ehemanns war Ryans, und das Kind hatte seine Augen.
An diesem Sonntagmorgen wachte ich früh auf. Ich konnte wegen des Gewichts auf meinem Herzen nicht mehr schlafen. Es war noch stockfinster, und ich war mir sicher, dass ich etwas geträumt hatte, aber ich wusste nicht, was es war, und es huschte davon, während ich versuchte, es einzufangen. Es war so still wie in einem Grab in dieser Nacht; so still wie die kalte, leblose Erde tief dort unten, wohin kein Geräusch dringt. Es war so still, dass ich nicht denken konnte. Ganz allmählich set z te ein Geräusch ein, das wie die leisen Schritte einer sich anschleichenden Armee klang, und es begann zu regnen.
Am Nachmittag regnete es noch immer wie aus K ü beln. Durch die fast menschenleeren Straßen flossen B ä che aus Schlamm. Niemand würde bei so einem Wetter nach draußen gehen. Außer den Soldaten. Sie waren die Einzigen, die unten vorbeigingen. Ich saß am Schla f zimmerfenster, beobachtete den Regen und dachte an gar nichts. Es gab nichts zu tun, und ich hätte mich sowieso nicht konzentrieren können. Ich konnte denselben Satz in der Zeitung zehnmal lesen, ohne ihn zu verstehen. Aus dem Wohnzimmer hörte ich Marias und Großmut ters Unterhaltung, das leise Heben und Senken ihrer Sti m men, aber ich wollte auch nicht bei ihnen sein.
Ich beschloss, Stirlings Grab zu besuchen. Ich zog meinen Mantel über und ging ins Wohnzimmer.
»Du willst doch nicht bei diesem Wetter rausgehen?« Groß mutters Blick folgte mir, als ich meine Schlüssel suchte. Ich nickte. »Wohin gehst du?«
Maria, die neben ihr am Tisch saß, legte ihr eine Hand auf den Arm. »Hier!« Sie hielt mir einen Zettel entgegen.
Zum Friedhof, schrieb ich.
»Du wirst krank werden, wenn du bei diesem Regen nach draußen gehst«, warnte Großmutter. »Du wirst sehr krank werden. Und obwohl heute Sonntag ist, patrouilli e ren Soldaten auf den Straßen – irgendetwas stimmt da nicht. Bleib zu Hause, Leo.« Ihre Stimme war zittrig und weinerlich. Sie griff nach meinem Arm. »Bitte, bleib da.«
Ich schüttelte den Kopf und ging zur Tür. »Ich denke, es ist in Ordnung, Mrs. North«, sagte Maria. »Es ist nicht kalt, und außerdem sieht es so aus, als ob der Regen bald aufhören wird. Soll ich trotzdem Feuer machen, damit es warm ist, wenn Leo heimkommt?«
Großmutter nickte und nahm Marias Hand. Ich ging, während sie die Kohlen auf dem Feuerrost aufschicht e ten. Ich lief die Treppe hinunter und hinaus auf die Str a ße. Das Gehen gab mir etwas zu tun, und es machte den Schmerz in meinem Herzen dumpfer und leichter erträ g lich. Und ich würde tausendmal lieber im Regen neben Stirlings Grab stehen, als wieder und wieder
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