Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
zu unterrichten als politische Verhandlungen zu führen. Das waren vielleicht die falschen Motive, aber jedenfalls willigte ich ein.«
Ich ließ das Buch sinken. Es herrschte Stille. Dann flü s terte Stirling : »Es ist Aldebaran .«
»Ja«, sagte ich. »Wir hatten Recht.«
»Und Margaret ist Großmutter, und das Baby Harold ist Großonkel Harold«, fuhr Stirling fort. »Seine Familie, über die er am Anfang gesprochen hat.«
Ich blätterte zu der entsprechenden Seite zurück. Ich eri nn erte mich, dass Großmutter uns einmal – vor langer Zeit, bevor sie aufgehört hatte, über Aldebaran zu spr e chen – erzählt hatte, dass sie und ihre beiden Geschwister auf der Heiligen Insel aufgewachsen waren. Sie hatte uns, genau wie Aldebaran dem alten Mann, beschrieben, wie sie mit dem Baby vor dem Feuer gesessen hatten. Es war seltsam, das hier in diesem Buch zu lesen.
»Er muss sie vermissen«, überlegte Stirling. »Aldeb a ran muss Großmutter vermissen. Sie ist dasselbe für ihn wie ich für dich.«
»Ich schätze, das stimmt.« Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Aldebaran ja Großmutters älterer Br u der war und sie vermutlich genau wie Stirling und ich zusammen zur Schule gegangen waren und stundenlang geredet und diskutiert hatten. Aldebaran schien für so etwas viel zu sehr einer Legende zu entstammen. »Soll ich weiterlesen?«
Stirling nickte. Wir hatten noch eine halbe Stunde, b e vor Großmutter aus der Kirche zurückkam, und es waren noch mehrere Seiten übrig.
Draußen war es inzwischen ziemlich dunkel geworden, aber Raymond machte keine Anstalten, das Licht anz u knipsen. »Fahren Sie fort«, bat er. »Erzählen Sie mir von der Heiligen Insel.«
Der Butler ließ den Blick wieder über den See schwe i fen. »Das ist es, worüber ich gerade sprechen wollte. Über diese Mission – und ihr Scheitern …« Er schien für einen Moment über die Vergangenheit nachzusinnen. »Talitha befahl mir, sofort abzureisen. Ich ging zum H a fen und bestieg ein Schiff, das erst nach Süden an die Küste und dann in nordwestlicher Richtung zur Heiligen Insel fahren würde. Während meiner ganzen Reise jube l te ich innerlich, denn ich fuhr nach Hause. Die Straßen wurden immer vertrauter, als ich mich Valacia näherte.«
»Was ist Valacia ?«
»Die Hauptstadt. Der Landsitz der Familie Kalitz lag ein wenig außerhalb und keine fünfzehn Kilometer von dem Land entfernt, das meine Eltern früher bewirtscha f teten. Aber ich würde nicht in der Lage sein, mit meiner Familie Kontakt aufzunehmen. Ich wusste, dass ich mehr oder weniger ein Gefangener sein würde – ich konnte mich nicht hinauswagen und riskieren, erkannt zu we r den, und außerdem lebte die Kalitz-Familie vollkommen abgeschottet hinter hohen Zäunen. Sie geboten über eine ganze Armee von Dienern, die Hälfte davon Wachen. Bei meiner Ankunft standen sie, nur zur Demonstration ihrer Stärke, alle entlang der Einfahrt aufgereiht, und das o b wohl ich bloß der neue Lehrer der Kinder war.«
»Waren sie Fürsten?«
»Nicht direkt. Tatsächlich sind sie adelig, aber was die Heilige Insel anbelangt, waren sie so etwas wie Fürsten, und sie erwarteten, dementsprechend behandelt zu we r den. Jedenfalls war die Einzige, die ich mochte, die kle i ne Tochter Anneline. Marcus Kalitz kam noch nicht mal nach unten, um mich bei meiner Ankunft zu begrüßen, und auch in den folgenden Wochen sprach er kaum mit mir. Die meiste Zeit verharrte er in missmutigem Schweigen. Der einzige Mensch, mit dem er wirklich sprach, war sein Sohn Lucien. Er hielt ihm stundenlange Vorträge und wetterte dabei gegen die Monarchie wie ein Priester, der das Evangelium verkündet.«
»Warum lehnte er die Monarchie ab?«
»Er hasste die königliche Familie – die Donahues –, und zwar hauptsächlich wegen seines Streits mit König Cassius I. Der König behauptete, dass Kalitz versucht habe, ihn zu ermorden, doch Kalitz beharrte darauf, dass es ein Missverständnis sei. Aber die ganze Familie Kalitz hasste die königliche Familie.«
»Was war mit den anderen?«, fragte Raymond.
»Celine war genauso unerträglich wie ihr Ehemann. Sie verbrachte ihre gesamte Zeit damit, sich mit anderen zu vergleichen und sie als minderwertig zu befinden. Die Dienstboten wurden von ihr als niedere Rasse anges e hen.«
»Aber bestimmt galten Sie nicht als Dienstbote?«
»In diesem Haus wurde ich sehr wohl als einer ang e sehen. Nicht von Anneline, aber von jedem anderen. S o gar der
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