Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
zu tun. Die Beeinflussung von Kräften ist nicht mein Spezialgebiet.«
»Was ist Ihr Spezialgebiet?«
»Prophezeiungen. Schon als kleiner Junge sah ich die Zukunft in meinen Träumen. Einmal prophezeite ich e i nen Sturm, der unsere Ernte vernichtet hätte. Und mit dreizehn sah ich mich selbst als Mann mittleren Alters, der gefoltert und verbannt worden war. Leider hat es sich erfüllt. Das gilt für alles, was ich je vorhergesagt habe.«
»Dann sagen Sie mir die Zukunft voraus«, verlangte Raymond. »Erzählen Sie mir, was Sie in meiner Zukunft sehen.« Er dachte kurz nach. »Verraten Sie mir, wann ich sterben werde.«
»Nein.« Das Gesicht des Butlers war nun wieder ernst. »Ich denke, ich sollte mit der Geschichte fortfahren. Dies ist kein Spiel. Nichts davon.«
Obwohl er nicht genau hätte sagen können, warum, verspürte Raymond plötzlich Angst. »Ja, fahren Sie fort, Field.«
»Prophezeiungen waren mein Hauptgebiet beim G e heimdienst«, sagte der Butler. »Zumindest anfangs. Ich kletterte die Rangleiter hoch und wurde sehr berühmt. Die Menschen konnten damals in der Zeitung lesen, dass Aldebaran eine Verschwörung gegen den König aufg e deckt oder einen Waffenhändlerring zerschlagen hatte, und so wurde der Name Aldebaran überal l b ekannt. Es gab damals eine alte Prophezeiung über einen Erleucht e ten, der aus dem Westen des Landes kommen würde, und die Leute fingen an, mich damit in Verbindung zu bri n gen. Aber es war nur mein angenommener Name, der berühmt wurde – jener Name, den ich mir nach meiner Ausbildung gab. Innerhalb des Geheimdienstes bleibt man anonym. Niemand kannte mein Gesicht.«
»Aldebaran?«, fragte Raymond. »War das der Name, den Sie annahmen, nachdem Sie die Kunst der Magie erlernt hatten?«
»Aldebaran ist mein Name, ja. Nach einem Stern. Wissen Sie, das ist bei uns Tradition – die Erleuc h teten nach Sternen, Sternbildern oder Planeten zu bene n nen.«
»Gibt es denn genug?« Raymond blickte hinaus zu den ersten Sternen, die sich über den Bergen zeigten.
»Bisher sind uns die Namen noch nicht ausgegangen.«
»Also hießen Sie niemals Arthur Field?«
»Ganz früher hieß ich tatsächlich so. Aber während all der Jahre beim Geheimdienst war ich einfach nur Ald e baran.«
»Erzählen Sie weiter«, bat Raymond und lehnte sich in seinem Stuhl vor.
»Es waren damals hervorragende Männer und Frauen beim Geheimdienst«, fuhr Aldebaran fort. »Die meisten von ihnen verfügten über eine besondere Gabe – ich war in dieser Hinsicht nicht außergewöhnlich. Talitha war die Beste unter uns – sie war genauso alt wie ich, aber trot z dem war stets sie diejenige, die die schwierigsten und gefährlichsten Aufgaben übernahm. Sie war wesentlich talentierter, als ich es je sein würde. Als ich Ende vierzig war, leitete sie bereits den gesamten malo nischen G e heimdienst. Trotzdem war ich zu dieser Zeit ebenso b e rühmt wie sie. Vielleicht anschließend sogar noch etwas mehr, denn von nun an strich ich den Ruhm für die g e fährlichsten Missionen ein, während sie von der Stadt aus andere Einsätze leitete.
Auf jeden Fall kam es dann eines Tages zu einem Au f trag, für den Talitha mich auswählte. Der König, Cassius I., war im Jahr zuvor gestorben, und sein erst zehnjähr i ger Sohn sollte den Thron übernehmen. Als Folge davon wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, um eine mögliche Revolution zu verhindern. Man hatte schon seit langer Zeit die Familie Kalitz auf der Heiligen Insel in Verdacht, einen Aufstand zu planen – Marcus Kalitz war ein Ratgeber von König Cassius I. gewesen, bevor er wegen mysteriöser Geschehnisse, die niemand ganz durchblicken konnte, entlassen wurde.
Nun war Kalitz auf der Suche nach einem Privatlehrer für seine beiden Kinder. Der Plan sah vor, dass ich mich in die Familie einschleusen und sie genau im Auge b e halten sollte. Ich war der Meinung, dass ich für eine so l che Aufgabe viel zu bekannt wäre, doch aus irgendeinem Grund hatte Talitha es sich in den Kopf gesetzt, dass niemand sonst infrage käme. Ich schätze, es war ein log i scher Gedanke. Ursprünglich stamme ich selbst von der Heiligen Insel. Sie ist wie ein eigener Staat, über den a n stelle des Monarchen die Kalitz-Familie herrscht, in dem ein eigener Dialekt gesprochen wird und eigene Bräuche gelten. Ich sprach den Dialekt und kannte die Bräuche. Es war meine Heimat, die ich liebte, und auch wenn ich es nicht zugab, zog ich es insgeheim vor, ein paar Kinder
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