Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Wort.
»Ekklesiastes?«, fragte sie. »Zumindest liest du die Bibel. Ich hoffe, du ziehst ein paar moralische Lehren daraus.« Sie bemühte sich noch immer verzweifelt, frö h lich zu klingen.
»Alles ist Nichtigkeit?«, fragte ich.
»Du bist noch nicht am Ende des Buchs angelangt. Kein Wunder also, dass es dich nicht besonders aufmu n tert. Stirling, du solltest bald schlafen. Ich hab dir Suppe gekocht. Wirst du ein bisschen davon essen?«
Stirling schüttelte den Kopf.
»Das solltest du aber. Du musst wieder zu Kräften kommen.«
»Mir wird übel werden …« , sagte er erschöpft. »Mir ist jetzt schon ein bisschen schlecht.«
»Iss trotzdem ein paar Löffel«, bat Großmutter.
»Das ist keine gute Idee«, warf ich ein.
»Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten, Leo.«
Stirling musste sich heftig übergeben, nachdem er die Suppe gegessen hatte.
Großmutter hatte das erwartet und bereits einen Eimer griffbereit. »Leo, bring ihn in den Hof und spül ihn aus.« Sie gab mir den Eimer. Stirling war immer noch ganz grau im Gesicht. »Und hol mir den anderen aus dem K ü chenschrank, bevor du runtergehst.«
»Ich wusste, dass es eine schlechte Idee ist, ihm die Suppe zu geben«, sagte ich relativ gutmütig, als sie mir nach meiner Rückkehr vom Hof den anderen Eimer übergab.
»Das hilft jetzt nicht weiter!«
»Wie lange wird das noch so gehen?«, fragte ich mit e t was weniger gutem Willen, nachdem ich zum vierten Mal die Treppe hinaufgestiegen war.
»Entschuldigung«, krächzte Stirling, und ich fühlte mich sofort schuldig.
»Das war nur ein Scherz. Es macht mir nichts aus.«
»Warum, zur Hölle, können wir kein fließendes Wa s ser haben?«, fragte ich zum etwa zehnten Mal. Ich fuhr fort, meiner Großmutter genau zu erklären, was ich von uns e rer Wohnung hielt, während ich den Eimer auf den B o den knallte.
»Leo!«, ermahnte mich Großmutter. »Hör auf, so zu fluchen.«
»Und warum muss ich sie ausspülen, wenn er sowieso gleich wieder reinbricht? Es nimmt kaum Platz in den verdammten Eimern weg. Kann er sie nicht zweimal b e nutzen, bevor ich sie runtertrage? Oder vielleicht kann er nach unten in den Waschraum gehen.«
»Leo!«, schrie Großmutter. »Verstehst du nicht, um was es hier geht? Es ist das Stille Fieber. Nein, er kann nicht nach unten gehen! Lieber Himmel – ich verzweifle noch an dir, Leo!«
»Ich … könnte …« Stirling versuchte aufzustehen.
»Bleib, wo du bist«, sagte Großmutter, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Leo, geh nach unten und spül das aus.« Vor mich hin fluchend ging ich und knallte die Tür hinter mir zu. Ich war plötzlich völlig erschöpft und hatte nicht mehr die Kraft, freundlich zu sein.
Maria kam auf den Hof, als ich gerade den Eimer in den Gully leerte. »Hallo, Leo.« Ich nickte ihr zu. »Was machst du da?«
»Ich kippe Erbrochenes in einen Gully«, antwortete ich missmutig. Sie lächelte. »Das ist verdammt noch mal nicht komisch.«
»Entschuldige.« Ihr Gesicht war wieder ernst. »Es lag nur an der Art, wie du es gesagt hast. Brauchst du bei irgendwas Hilfe?«
»Bei was zum Beispiel?«
»Bei … irgendetwas. Es muss schwer sein für dich und deine Großmutter, Stirling zu pflegen, und ich würde euch gern helfen.«
»Es ist doch erst ein Tag.«
»Stimmt, aber du siehst trotzdem müde aus.«
Ich seufzte. »Weißt du, wie oft ich dieses verdammte Ding jetzt schon ausgespült habe?«
»Ziemlich oft, schätze ich. Keine Ahnung.« Sie wollte sich nicht auf einen Streit mit mir einlassen. Ich wünsc h te, sie würde. Ich brauchte jemanden, den ich anschreien konnte.
»Ich auch nicht. Ich habe aufgehört mitzuzählen.« Ich ging zum Wasserhahn, ließ wieder Wasser in den Eimer laufen und kehrte zum Gully zurück, um ihn auszuleeren.
»Ich hätte dir dabei helfen können.«
»Warum, zur Hölle, solltest du Erbrochenes in einen Gully schütten wollen? Macht dir das Spaß, oder was?«
»Du hast kaum geschlafen, seit Stirling krank ist, Leo.« Sie stand noch immer da. »Sogar als wir dachten, dass es ihm besser geht, hast du nachts an seinem Bett gesessen. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Tja, dann bist du die Einzige, die das tut.«
»Richte deiner Großmutter aus, dass ich gern vorbe i komme und helfe, wo ich kann. Jederzeit, egal, ob am Tag oder in der Nacht. Wenn man seine Freunde nicht um Hilfe bitten kann, Leo, wen dann?«
Ich gab nun endlich nach und versuchte, sie als En t schuldigung anzulächeln, aber mit
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