Manta 01 - Omnivor
Cals Geschichte eine Lüge war. Keine Droge oder chirurgische Technik, die sie kannte, konnte einem Menschen das antun, was Cal behauptet hatte. Allenfalls war es möglich, eine infantile Abhängigkeit von Milch hervorzurufen, die dem Blut tatsächlich sehr ähnlich war. Und wenn man es doch speziell auf Blut beschränken konnte, allerdings nicht so eng, daß die Art dieses Blutes oder die Tiere, von denen es kam, eine Rolle spielten, dann konnte bestimmt auch ein chemisches Surrogat in ausreichender Quantität von einem Labor hergestellt werden. Die orale Verabreichung entlarvte das Ganze - eine Transfusion war eine präzise Angelegenheit, aber der Verdauungtrakt eines Menschen war so ausgerüstet, daß er mit vielerlei Dingen fertig werden konnte.
Cal hatte ihnen wirklich eine Geschichte aufgetischt, wie von ihm angedroht - und Veg mußte sie als das erkannt haben, was sie war. Warum nahm er die Fiktion dann als Wahrheit - und handelte auch noch danach? Wie konnte er, im wahrsten Sinne des Wortes, sein Blut dazu hergeben, eine Scharade aufrechtzuerhalten?
Und dann verstand sie es. »Ich glaube nicht, daß ich jemals gewußt habe, was wahre Freundschaft ist«, sagte sie ruhig. »Aber du mußt dir deine Kraft bewahren, um ihn tragen zu können. Sonst kommt keiner von uns zurück.«
Veg zögerte. »Er muß essen.«
Sie hielt ihm ihren eigenen Arm hin. »Ich brauche nichts zu tragen«, sagte sie.
Veg betrachtete sie und nickte. »Du bist schon eine Frau«, sagte er doppeldeutig. Diese Worte löschten seine vorangegangenen Reaktionen auf ihren scherzhaften Heiratsvorschlag und die Motive, die dahintersteckten, aus.
Er sprang auf die Füße und stürmte an ihr vorbei.
Als sie sich umdrehte, erkannte sie den Grund. Cal hatte es fast bis zum Rand des Abgrunds geschafft. Über seine Absichten konnte es keinen Zweifel geben. Veg packte den kleinen Mann und brachte ihn zum sicheren Teil des Plateaus zurück.
»Ihr wißt nicht, was ihr tut«, keuchte Cal schwächlich. »Ich muß sterben.«
»Du hast keine Wahl«, sagte Veg. »Es sei denn, du willst, daß ihr Blut im Staub versickert.« Er kam zu Aquilon zurück, das Messer in der Hand.
Abermals bewegte sich der Manta und schoß mit alarmierender Schnelligkeit zwischen sie.
»Was, zum.« Veg grunzte, ärgerlich jetzt. »Du kannst Cal berühren, und ich kann Cal berühren. Aber er läßt nicht zu, daß ich dich berühre. Was ist los mit dem Krüppel?«
»Wirf mir das Messer rüber«, sagte Aquilon.
Sie preßte die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz und den Schock zu wappnen, machte einen sauberen chirurgischen Schnitt in den fleischigen Teil ihres Unterarms und ließ das Blut in die Tasse tropfen.
Die vier bewegten sich den Abhang hinauf. Veg hatte die Spitze übernommen, Cal auf den Schultern. Aquilon folgte mit dem Gewehr und ihrem Zeichenblock. Am Schluß kam der Manta, unregelmäßig hüpfend. Offensichtlich war er nicht an langsames Reisen gewöhnt. Aquilon war sich seiner nervös bewußt. Fast glaubte sie den Schlag seines Schwanzes auf ihrem entblößten Rücken zu spüren. Aber er kam niemals zu nahe heran.
Die Stelle des Bergs fing an abzuflachen, als sie sich der nach außen gewölbten Spitze eines Hangs näherten. Die kugelförmigen Pilze wurden größer und zahlreicher. Sie säumten den Pfad wie fette Schneemänner, und auch die kleineren Zuckergußgewächse tauchten wieder auf.
Der Boden bebte. Ein lautes Krachen und Dröhnen wurde in der Dunkelheit über ihnen laut. Irgend etwas stürmte den Pfad hinunter!
Veg legte Cal an der Seite nieder und wirbelte herum. »Nur einer macht einen solchen Lärm«, sagte er grimmig.
Aquilon packte das Gewehr und betätigte den Zündknopf. Sie fühlte die Wärme der Kammer in den Händen. Als sie sah, wie der Wasserstrahl in dem durchsichtigen Lauf vaporisierte, kam ihr der Gedanke, daß es möglich gewesen wäre, das Pilzwasser zu destillieren, um die Bakterien abzukochen und die Giftstoffe zu eliminieren, die sich vielleicht in der Flüssigkeit befunden haben mochten.
Das Gewehr war heiß und schußbereit. Veg trat auf sie zu und streckte die Hand nach der Waffe aus. Der Manta machte einen Sprung und funkelte drohend.
Veg wich zurück. »Wirf es her!«
Zu spät.
Eine große gefleckte Gestalt kam aus dem Nebel vor ihnen geschossen. Sie würde, wie Aquilon wußte, ungefähr eine Tonne wiegen. Die stachlige, fleckige Haut hing in gewaltigen Falten und ließ die Kreatur wie eine riesige, gehörnte Kröte
Weitere Kostenlose Bücher