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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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herausgenommen wurden. Die
Chormäntel waren mit Gold- und Silberfäden bestickt, hatten Muster mit goldenen
Sternen, mit Vögeln, Fischen, Hirschen, Löwen, Engeln, Blumen und
Katharinenrädern. Als  die Gewänder umgepackt und die Reisetruhen zugenagelt
wurden, kramten die Männer des Königs in den Kisten mit den Alben und
Chorhemden, von denen jedes von kundiger Hand fein gefaltet worden war. Sie
gingen von Hand zu Hand, schwerelos wie schlafende Engel, und leuchteten weich
im Licht; faltet eins auseinander, sagte ein Mann, lasst uns das Material
sehen. Finger zerrten an den Leinenbändern; hier, lassen Sie mich das machen,
sagte George Cavendish. Befreit, schwebte der Stoff im Luftzug, strahlend
weiß, so fein wie Nachtfalterflügel. Als die Deckel der Truhen mit den
Messgewändern angehoben wurden, war da der Duft von Zedern und Gewürzen gewesen,
schwermütig, fern, wüstentrocken. Zwischen die schwebenden Engel dagegen war
Lavendel gelegt worden; der Londoner Regen schlug an das Fensterglas, und der
Duft des Sommers erfüllte den trüben Nachmittag.
     
    TEIL
VIER
     
    Mach ein passendes Gesicht
    1531
     
    Es könnten Schmerzen sein oder
Angst oder ein Fehler der Natur, die Sommerhitze oder der Klang von
Jagdhörnern, die sich langsam entfernen, oder das Wirbeln glitzernden Staubs
in leeren Räumen. Vielleicht hat das Mädchen auch zu wenig geschlafen, weil der
abreisende Haushalt seines Vaters seit dem Morgengrauen zusammengepackt wurde
- warum auch immer, es ist in sich zusammengesunken, und seine Augen sind von
der Farbe abgestandenen Wassers. Einmal, als er die einleitenden Höflichkeiten
auf Lateinisch absolviert, sieht er, wie es sich fester an die Rückenlehne des
Stuhls klammert, auf dem seine Mutter sitzt. »Madam, Ihre Tochter sollte sich
hinsetzen.« Falls ein Kräftemessen daraus werden sollte, nimmt er vorsorglich
einen Hocker und stellt ihn mit einem entschlossenen kleinen Knall neben
Katherines Röcke.
    Starr in ihrem mit Fischbein
verstärkten Mieder, beugt sich die Königin zurück, um ihrer Tochter etwas
zuzuflüstern. Die Damen in Italien trugen scheinbar unbekümmert Konstruktionen
aus Eisen unter ihren Seidenstoffen. Es bedurfte unendlicher Geduld - nicht nur
beim Verhandeln -, um sie aus ihren Kleidern zu bekommen.
    Mary senkt den Kopf und
antwortet flüsternd; auf Kastilisch deutet sie an, dass sie unter weiblichem
Unwohlsein leide. Zwei Augenpaare heben sich, um ihn anzusehen. Der Blick des
Mädchens ist unbestimmt; sie sieht ihn, vermutet er, als eine unförmige Masse
aus Schatten in einem Raum, in dem der Kummer stetig ansteigt. Steh gerade,
murmelt Katherine: wie eine Prinzessin von England. Auf die Stuhllehne gestützt,
atmet Mary tief ein. Sie wendet ihm ihr unattraktives, verkniffenes Gesicht
zu: so hart wie Norfolks Fingernagel.
    Es ist früher Nachmittag, sehr
heiß. Die Sonne wirft sich immer wieder verändernde Vierecke aus Lila und Gold
an die Wand. Die verwelkten Felder von Windsor breiten sich unter ihnen aus.
Die Themse weicht von ihren Ufern zurück.
    Die Königin spricht Englisch.
»Weißt du, wer das ist? Das ist Master Cromwell. Der jetzt alle Gesetze
schreibt.«
    Unbequem zwischen den Sprachen
eingeklemmt, sagt er: »Madam, sollen wir auf Englisch fortfahren oder auf
Latein?«
    »Ihr Kardinal hat das auch
immer gefragt. Als  wäre ich eine Fremde hier. Ich sage Ihnen jetzt, was ich
auch immer zu ihm gesagt habe: dass ich schon als Prinzessin von Wales
angeredet wurde, als ich drei Jahre alt war. Ich war sechzehn, als ich
hierherkam, um Mylord Arthur zu heiraten. Ich war Jungfrau und siebzehn, als
er starb. Ich war vierundzwanzig, als ich Königin von England wurde, und zur
Vermeidung von Missverständnissen möchte ich anmerken, dass ich gegenwärtig
sechsundvierzig Jahre alt bin, immer noch Königin und inzwischen, wie ich
glaube, eine Art Engländerin. Aber ich werde nicht alles für Sie wiederholen,
was ich dem Kardinal gesagt habe. Ich nehme an, dass er Ihnen Notizen davon
hinterlassen hat.«
    Er hält es für richtig, sich
zu verbeugen. Die Königin sagt: »Seit Anfang des Jahres hat man gewisse
Gesetzesvorlagen im Parlament eingebracht. Bislang hatte Master Cromwell ein
Talent fürs Geldverleihen, aber jetzt stellt er fest, dass er auch ein Talent
für die Gesetzgebung hat - wenn man gerne ein neues Gesetz haben möchte,
braucht man ihn nur zu fragen. Ich höre, dass Sie nachts die Entwürfe in Ihr
Haus mitnehmen — wo ist eigentlich Ihr Haus?« Sie lässt

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