Mantel, Hilary
meiner Nichte, der Königin,
auch sagen? Ins Gesicht, meine ich?«
»Das habe ich bereits getan.«
»Und wie hat sie es
aufgenommen?«
»Nun, ich kann nur sagen, Lady
Shelton, hätte sie eine Axt zur Hand gehabt, hätte sie versucht, mir den Kopf
abzuhacken.«
»Ich sage Ihnen auch etwas,
und Sie können es meiner Nichte zutragen, wenn Sie wollen. Wenn Mary wirklich
illegitim wäre, selbst wenn sie die uneheliche Tochter von Englands ärmstem
Gentleman ohne Land wäre, würde sie trotzdem von meiner Seite nichts als
Freundlichkeit erfahren, denn sie ist eine gute junge Frau, und man müsste ein
Herz aus Stein haben, wenn man kein Mitleid für ihre Situation empfände.«
Ihre Schleppe fegt über den
Steinboden, als sie schnell in den Hauptteil des Hauses geht. Marys alte
Diener sind da, Gesichter, die er schon gesehen hat; auf ihren Livreejacken
sind die Stellen deutlich sichtbar, wo Marys Emblem abgetrennt und durch das
Emblem des Königs ersetzt wurde. Er sieht sich um und erkennt alles. Am Fuß
der großen Treppe bleibt er stehen. Niemals war es ihm erlaubt gewesen hinaufzulaufen;
für Jungen wie ihn, die Holz oder Kohle trugen, gab es eine Hintertreppe.
Einmal missachtete er die Regel; und als er oben ankam, schnellte eine Faust
aus der Dunkelheit und schlug ihn von der Seite auf den Kopf. Kardinal Morton
persönlich, der gelauert hatte?
Er berührt den Stein, kalt wie
ein Grab: Weinlaub, durch das sich eine namenlose Blume schlingt. Lady Shelton
sieht ihn lächelnd, fragend an: Warum zögert er? »Vielleicht sollten wir
unsere Reitkleider ausziehen, bevor wir Lady Mary treffen. Sie könnte sich
beleidigt fühlen ...«
»Das könnte sie auch, wenn Sie
es aufschieben. So oder so, sie wird in jedem Fall Anstoß nehmen. Ich sagte,
dass ich sie bemitleide, aber ach, sie ist nicht einfach! Sie beehrt uns weder
zum Mittag- noch zum Abendessen, weil sie sich weigert, bei Tisch unterhalb der
kleinen Prinzessin zu sitzen. Und meine Nichte, die Königin, hat angeordnet,
dass kein Essen in ihr Zimmer gebracht werden darf, außer dem bisschen Brot zum
Frühstück, das wir alle nehmen.«
Sie hat ihn an eine
geschlossene Tür geführt. »Nennt man das immer noch das blaue Gemach?«
»Ah, Ihr Vater war schon
einmal hier«, sagt sie zu Gregory.
»Er war überall«, sagt
Gregory.
Sie dreht sich um. »Schauen
Sie, was Sie erreichen, meine Herren. Übrigens, sie hört nicht auf >Lady
Mary<.«
Es ist ein langer Raum, in dem
fast keine Möbel stehen, und an der Schwelle empfängt sie Kälte wie der
Botschafter eines Geistes. Die blauen Tapisserien sind heruntergenommen worden,
und die verputzten Wände sind kahl. An einem fast erloschenen Feuer sitzt
Mary, zusammengesunken, winzig und erschreckend jung. Gregory flüstert: »Sie
sieht aus wie Malekin.«
Die arme Malekin, sie ist ein
Geistermädchen; sie isst nachts, lebt von Krumen und Apfelschalen. Manchmal,
wenn man früh nach unten kommt und auf der Treppe leise ist, findet man sie in
der Asche sitzend.
Mary sieht auf; erstaunlich,
aber ihr kleines Gesicht hellt sich auf. »Master Cromwell.« Sie steht auf, geht
einen Schritt auf ihn zu und stolpert fast, weil sich ihre Füße im Saum ihres
Kleides verfangen. »Wie lange ist es her, dass ich Sie in Windsor gesehen
habe?«
»Ich kann es kaum sagen«,
antwortet er ernsthaft. »Die Jahre haben es gut mit Ihnen gemeint, Madam.«
Sie kichert; sie ist jetzt
achtzehn. Sie sieht sich um, als suche sie den Hocker, auf dem sie gesessen
hat. »Gregory«, sagt er, und sein Sohn hechtet vor, um die Ex-Prinzessin
aufzufangen, bevor sie sich in die Luft setzt. Gregory tut so, als wäre es ein
Tanzschritt; manchmal kann er nützlich sein.
»Es tut mir leid, dass Sie
stehen müssen. Sie könnten sich vielleicht«, sie macht eine unbestimmte
Bewegung mit der Hand, »auf die Kommode dort setzen.«
»Ich denke, wir sind stark
genug, um zu stehen. Obwohl ich nicht glaube, dass Sie es sind.« Er sieht, dass
Gregory ihm einen Blick zuwirft, als hätte er seinen gemilderten Tonfall noch
nie gehört. »Man lässt Sie doch nicht alleine sitzen, und dann auch noch bei
diesem dürftigen Feuer?«
»Der Mann, der das Holz
bringt, weigert sich, mich mit dem Titel Prinzessin anzusprechen.«
»Müssen Sie denn mit ihm
sprechen?«
»Nein. Aber es wäre Feigheit,
wenn ich es nicht täte.«
So ist es richtig, denkt er:
Mach dir das Leben so schwer wie möglich. »Lady Shelton hat mir von der
Schwierigkeit bei... von der Schwierigkeit mit den
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