Mantel, Hilary
wusste,
wer ich war.«
»Sie mochte dich, als du ihr
die Engelsflügel gemacht hast. Sie hat gesagt, sie würde sie immer behalten.«
Sein Sohn wendet sich ab; er spricht, als habe er Angst vor ihm. »Rafe sagt, du
wirst bald der zweite Mann im Königreich sein. Er sagt, das bist du schon, es
fehlt nur noch der Titel. Er sagt, der König wird dich über den Lordkanzler
stellen. Über alle anderen, sogar über Norfolk.«
»Rafe überschlägt sich. Hör
zu, Sohn, sprich mit niemandem über Mary. Nicht einmal mit Rafe.«
»Habe ich mehr gehört, als ich
sollte?«
»Was, glaubst du, würde
geschehen, wenn der König morgen sterben sollte?«
»Wir wären alle sehr traurig.«
»Aber wer würde herrschen?«
Gregory nickt in Richtung Lady
Bryans, in Richtung des Kindes in der Wiege. »So sagt es das Parlament. Oder
das Kind der Königin, das noch nicht geboren ist.«
»Aber würde es auch geschehen?
In der Praxis? Ein ungeborenes Kind? Oder eine Tochter, die noch nicht einmal
ein Jahr alt ist? Anne als Regentin? Das würde den Boleyns gut gefallen, so
viel ist sicher.«
»Dann Fitzroy.«
»Es gibt ein Mitglied der
Familie Tudor, das besser positioniert ist.«
Gregorys Augen blicken zurück
zu Lady Mary. »Genau«, sagt er. »Pass auf, Gregory, es ist gut und schön zu
planen, was du in sechs Monaten tun wirst, in einem Jahr, aber es ist überhaupt
nicht gut, wenn du keinen Plan für morgen hast.«
Nach dem Abendessen sitzt er
bei Lady Shelton, und sie unterhalten sich. Lady Bryan ist zu Bett gegangen,
aber dann kommt sie noch einmal nach unten, um sie zu veranlassen, auch
schlafen zu gehen. »Sie werden morgen früh müde sein!«
»Ja«, stimmt Anne Shelton zu
und winkt sie davon. »Am Morgen wird nichts mit uns anzufangen sein. Wir werden
unser Frühstück zu Boden fallen lassen.«
Sie bleiben sitzen, bis sich
die Diener gähnend in einen anderen Raum verziehen und die Kerzen
niederbrennen; dann ziehen sie sich weiter zurück, in kleinere und wärmere
Räume, um noch mehr zu reden. Sie haben Mary guten Rat gegeben, sagt sie, ich
hoffe, sie befolgt ihn, ich befürchte nämlich, dass harte Zeiten vor ihr
liegen. Sie spricht über ihren Bruder Thomas Boleyn: Der selbstsüchtigste
Mensch, den ich je gekannt habe, es ist kein Wunder, dass Anne so habgierig
ist, alles, was sie je von ihm gehört hat, ist Gerede über Geld und wie man
sich einen miesen Vorteil gegenüber anderen Leuten verschafft. Er hätte diese
Mädchen nackt auf einem Berbermarkt als Sklavinnen verkauft, wenn der Preis
gestimmt hätte.
Er stellt sich vor, wie er von
lauter Dienern mit Krummschwertern umgeben ist und ein Angebot für Mary Boleyn
macht; er lächelt und wendet seine Aufmerksamkeit wieder ihrer Tante zu. Sie
erzählt ihm Geheimnisse der Boleyns; er erzählt ihr keine Geheimnisse, obwohl
sie glaubt, er hätte es getan.
Gregory schläft schon, als er ins
Zimmer kommt, aber dann dreht er sich um und sagt: »Lieber Vater, wo bist du
gewesen, im Bett mit Lady Shelton?«
Solche Dinge passieren: aber
nicht mit Boleyns. »Was du für merkwürdige Träume haben musst. Lady Shelton
ist seit dreißig Jahren verheiratet.«
»Vielleicht hätte ich nach dem
Essen bei Mary sitzen können«, murmelt Gregory. »Wenn ich mich davor gehütet
hätte, etwas Falsches zu sagen. Aber sie ist so höhnisch. Ich mag nicht bei
einem so höhnischen Mädchen sitzen.« Er wirft sich in seinem Federbett herum
und schläft wieder ein.
Als Fisher zur Vernunft kommt
und um Gnade ersucht, bittet der alte Bischof den König zu bedenken, dass er
krank ist und gebrechlich. Der König bringt zum Ausdruck, dass der
parlamentarische Strafbeschluss seinen Gang gehen muss: Aber es ist seine
Gewohnheit, sagt er, jenen Gnade zu gewähren, die ihre Fehler bekennen.
Die Magd soll gehängt werden.
Er sagt nichts von dem Stuhl aus menschlichen Knochen. Er erzählt Henry, dass
sie mit den Prophezeiungen aufgehört hat, und hofft, dass sie keinen Lügner
aus ihm machen wird, wenn man ihr in Tyburn die Schlinge um den Hals legt.
Als die Ratgeber vor dem
König knien und darum bitten, dass Thomas Mores Name aus dem Strafbeschluss
gestrichen wird, macht Henry dieses Zugeständnis. Vielleicht hat er nur darauf
gewartet: überredet zu werden. Anne ist nicht dabei, sonst wäre es vielleicht
anders ausgegangen.
Sie stehen auf und gehen
hinaus, klopfen sich den Staub ab. Er glaubt zu hören, wie der Kardinal sie
auslacht, irgendwo in einem unsichtbaren Teil des Raumes.
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