Mantel, Hilary
Worcester begraben.
Wäre er heute am Leben, wäre er König von England. Sein jüngerer Bruder Henry
wäre wahrscheinlich Erzbischof von Canterbury und würde nicht (zumindest hoffen
wir das inständig) einer Frau nachlaufen, von der der Kardinal nichts Gutes
hört: einer Frau, der er einige Jahre, bevor die Herzöge hereinmarschieren, um
ihn zu berauben, seine Aufmerksamkeit widmen muss; deren Geschichte er, bevor
der Ruin ihn einholt, verstehen muss.
Hinter jeder Geschichte: eine
andere Geschichte.
Die Dame erschien zu
Weihnachten 1521 bei Hofe und tanzte in einem gelben Kleid. Sie war - was? -
etwa zwanzig Jahre alt. Tochter des Diplomaten Thomas Boleyn, wurde sie von
Kind an am burgundischen Hof in Mecheln und Brüssel erzogen und später in
Paris, wo sie im Gefolge Königin Claudes zwischen den hübschen Schlössern an
der Loire hin und her pendelte. Jetzt spricht sie ihre Muttersprache mit einem
leichten, unbestimmbaren Akzent und streut französische Wörter in ihre Sätze
ein, wenn sie vorgibt, sich der englischen nicht entsinnen zu können. Zur
Fastnacht tanzt sie auf einem Maskenball bei Hofe. Die Damen sind als Tugenden
kostümiert, und sie spielt die Rolle der Standhaftigkeit. Sie tanzt anmutig,
aber energisch, hat einen amüsierten Ausdruck und ein hartes, unpersönliches
Lächeln im Gesicht, das sagt: »Rühr mich nicht an«. Bald gibt es eine ganze
Reihe unbedeutender Herren, die ihr nachlaufen; und einen nicht ganz so
unbedeutenden Herrn. Es geht ein Gerücht um, dass sie Harry Percy, den Erben
des Earls von Northumberland, heiraten wird.
Der Kardinal lässt ihren Vater
antreten. »Sir Thomas Boleyn«, sagt er, »sprechen Sie mit Ihrer Tochter oder
ich werde es tun. Wir haben sie aus Frankreich zurückgeholt, um sie nach Irland
zu verheiraten, mit dem Erben der Butlers. Warum zögert sie?«
»Die Butlers...«, beginnt Sir
Thomas, und der Kardinal sagt: »Ach ja? Die Butlers was? Wenn es da ein Problem
gibt, regle ich das mit den Butlers. Was ich gerne wissen möchte: Haben Sie sie
dazu angestiftet? Sich in dunklen Ecken mit diesem dummen Jungen zu
verschwören? Denn, Sir Thomas, ich möchte eines klarstellen: Ich dulde das
nicht. Der König duldet das nicht. Es muss aufhören.«
»Ich war in den letzten
Monaten kaum in England. Ihro Gnaden kann nicht glauben, dass ich etwas mit der
Geschichte zu tun habe.«
»Nein? Sie würden sich
wundern, was ich bereit bin zu glauben. Ist das die beste Entschuldigung, die
Sie vorbringen können? Dass Sie Ihre eigenen Kinder nicht im Griff haben?«
Sir Thomas hat eine ironische
Miene und streckt die Hände aus. Er ist kurz davor zu sagen: die jungen Leute
heutzutage ... Aber der Kardinal hält ihn davon ab. Der Kardinal hat den
Verdacht - und hat die sen Verdacht bereits geäußert -, dass die Aussicht auf
Kilkenny Castle die junge Frau ebenso wenig reizt wie das gesellschaftliche
Leben, das sie dort erwartet, wenn sie - bei besonderen Gelegenheiten - über
die schlechten Straßen nach Dublin reitet.
»Wer ist das?«, sagt Boleyn.
»In der Ecke dort?«
Der Kardinal wedelt mit der
Hand. »Nur einer meiner Rechtsberater.«
»Schicken Sie ihn raus.«
Der Kardinal seufzt.
»Macht er sich Notizen von
diesem Gespräch?«
»Machen Sie das, Thomas?«,
ruft der Kardinal. »Wenn ja, hören Sie sofort damit auf.«
Die halbe Welt heißt Thomas.
Boleyn wird sich hinterher nie sicher sein können, ob er es war.
»Sehen Sie, Mylord«, sagt er
und seine Stimme spielt von vorn nach hinten auf der Diplomatentonleiter und
wieder zurück: Er ist offen, ein Mann von Welt, und sein Lächeln sagt: Wolsey,
Wolsey, Sie sind doch auch ein Mann von Welt. »Die beiden sind jung.« Er macht
eine Geste, die Offenheit signalisieren soll. »Sie ist dem Jungen ins Auge
gefallen. Das ist nur natürlich. Ich habe ihr den Kopf zurechtgerückt. Sie
weiß, dass es nicht weitergehen kann. Sie kennt ihre Stellung.«
»Gut«, sagt der Kardinal,
»denn sie ist unter einem Percy. Ich meine«, fügt er hinzu, »darunter im
dynastischen Sinn. Ich spreche nicht davon, was vielleicht in einer warmen
Nacht in einem Heuhaufen geschieht.«
»Er akzeptiert es nicht, der
junge Mann. Er soll Mary Talbot heiraten, aber ...« Boleyn bricht in ein
kleines unbekümmertes Lachen aus, »er hat keine Lust, Mary Talbot zu heiraten.
Er glaubt, er darf sich seine Frau selbst aussuchen.«
»Seine Frau selbst aussuchen
...!« Der Kardinal bricht ab. »Dergleichen habe ich noch nie gehört. Er ist
doch kein
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