Mantel, Hilary
nicht an Omen
glaubt - und er persönlich tut das nicht -, ist das Problem offensichtlich.
Denn wenn der Kardinal eines Verbrechens schuldig ist, weil er seine
Gerichtsbarkeit als Legat ausgeübt hat, sind dann nicht all jene Geistlichen,
die dem zugestimmt haben, ebenfalls schuldig? Angefangen bei den Bischöfen? Er
ist bestimmt nicht der Einzige, der über diese Frage nachdenkt; aber die Feinde
des Kardinals kommen überwiegend nicht über seine Person hinaus, über diese
riesige scharlachrote Präsenz am Horizont; sie fürchten, dass sie wieder in
Erscheinung treten wird — bereit, Rache zu nehmen. »Schlechte Zeiten für
überhebliche Prälaten«, sagt Brandon, als sie sich das nächste Mal treffen. Er
klingt fröhlich, wie ein Mann, der pfeift, um den Mut nicht zu verlieren. »Wir
brauchen keine Kardinäle im Königreich.«
»Und als er«, tobt der
Kardinal, »als er, Brandon, kurzerhand die Schwester des Königs geheiratet hat
- geheiratet hat, als sie gerade erst Witwe war, wohlwissend, dass der König
sie für einen anderen Monarchen bestimmt hatte -, da wäre ihm der Kopf vom
Körper geschlagen worden, wenn nicht ich, ein einfacher Kardinal, den König um
Gnade für ihn gebeten hätte.«
Ich, ein einfacher Kardinal. »Und
welche Entschuldigung hat Brandon vorgebracht?«, sagt der Kardinal. »>Oh,
Majestät, Ihre Schwester Mary hat geweint. Und wie sie geweint und mich gebeten
hat, sie zu heiraten! Ich habe noch nie eine Frau so weinen sehen!< Als o
trocknete er ihre Tränen und verschaffte sich selbst ein Herzogtum! Und jetzt
redet er, als trüge er diesen Titel seit dem Garten Eden. Hören Sie, Thomas,
wenn hochgebildete Männer zu mir kommen, Männer mit gutem Charakter - wie
Bischof Tunstall kommt, wie Thomas More kommt —, und dafür plädieren, dass die
Kirche reformiert werden muss, natürlich, dann höre ich zu. Aber Brandon! Von
überheblichen Prälaten zu sprechen! Was war er denn? Der Pferdeknecht des
Königs! Und ich kannte Pferde mit mehr Verstand!«
»Mylord«, bittet Cavendish, »mäßigen
Sie sich doch etwas. Sie wissen, dass Charles Brandon aus einer alten Familie
stammt, dass er ein Gentleman von Geburt ist.«
»Ein Gentleman, er? Ein eitler
Angeber. Das ist Brandon.« Der Kardinal setzt sich, er ist erschöpft. »Mein
Kopf tut weh«, sagt er. »Cromwell, gehen Sie zum Hof und bringen Sie mir
bessere Nachrichten.«
Tag für Tag nimmt er Wolseys
Anweisungen in Richmond entgegen und reitet dorthin, wo sich der König gerade
aufhält. Er stellt sich den König als Gebiet vor, in das er vorrücken muss,
ohne eine Küste für den Nachschub zu haben.
Er versteht, was Henry von
seinem Kardinal gelernt hat: die fluktuierende Diplomatie, die Wissenschaft
der Zweideutigkeit. Er durchschaut, wie der König diese Wissenschaft auf den
langsamen, spurenlosen, bedenklichen Ruin seines Ministers anwendet. Jede
Freundlichkeit paart Henry mit einer Grausamkeit, einer weiteren Anklage oder
einer neuerlichen Beschlagnahme. Bis der Kardinal stöhnt: »Ich möchte hier
weg.«
»Winchester«, schlägt er den
beiden Herzögen vor. »Mylord Kardinal ist willens, in seinen Palast dort zu
gehen.«
»Was, so nah beim König?«,
sagt Brandon. »Wir halten uns nicht selbst zum Narren, Master Cromwell.«
Weil er, der Mann des
Kardinals, so oft bei Henry ist, hat sich über ganz Europa das Gerücht
verbreitet, dass Wolsey rehabilitiert werden soll. Der König hat ein gutes
Geschäft im Auge, sagen die Leute, er will den Reichtum der Kirche als
Gegenleistung für Wolseys Rückkehr. Gerüchte dringen aus der Ratskammer, aus
dem Kronrat: Der König mag das neue Arrangement nicht. Norfolk erweist sich als
Ignorant; Suffolk wird beschuldigt, auf störende Weise zu lachen.
Er sagt: »Mylord wird nicht
nach Norden gehen. Er ist nicht bereit dazu.«
»Aber ich will ihn im Norden
haben«, sagt Howard. »Sagen Sie ihm, dass er gehen soll. Sagen Sie ihm, Norfolk
will, dass er sich auf den Weg macht und von hier verschwindet. Oder - und
sagen Sie ihm das - ich komme zu ihm und reiße ihn mit den Zähnen.«
»Mylord.« Er verbeugt sich.
»Darf ich das Wort >beißen< einsetzen?«
Norfolk tritt näher an ihn
heran. Viel zu nah. Seine Augen sind blutunterlaufen. Jede Sehne zuckt. Er
sagt: »Sie setzen gar nichts ein, Sie missratener ...« Der Herzog stößt einen
Zeigefinger in seine Schulter. »Sie ... Person«, sagt er; und weiter: »Sie
Niemand aus der Hölle, Sie Hurenbrut, Sie Ausgeburt des Bösen, Sie Anwalt.«
Da
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