Mantelkinder
einem Mantel, beziehungsweise Umhang zugedeckt. Es sind Gemeinsamkeiten im Tod, Karin! Und wir hatten das schon x-mal!“
Sie sah kurz auf ihre Notizen. „Sie sind beide Einzelkinder und unehelich, und das sind die einzigen Gemeinsamkeiten, die sie im Leben hatten. Aber auch das können wir vergessen. Wir haben die Leute vom Jugendamt überprüft, die leiblichen Väter, den Freund von der Böhm. Karin! Wir kommen auf dem Weg nicht weiter! Also lass es gut sein. Wir … Hast du was?“
Karins Gesicht war aschfahl geworden. Beinahe durchsichtig. Die Kieselaugen fixierten ein Astloch auf der Tischplatte.
„`Es schickt sich gut, dass du´s unterm Mantel trägst, denn ein Mantelkind ist es. Bei seinem vollen Namen will ich´s nicht nennen´“, rezitierte sie leise. Und lauter setzte sie hinzu: „Fontane. Grete Minde.“
Chris zog die Mundwinkel nach unten. Das war nun wirklich nicht der passende Zeitpunkt für eins von ihren Zitaten. Was sollte das jetzt?
Als in seinem Gehirn endlich ankam, was Karin da gesagt hatte, spürte er, wie er ebenfalls bleich wurde.
„Ach, du Scheiße!“ Er sprang auf und rannte in sein selten genutztes Arbeitszimmer. Mit sicherem Griff riss er die entsprechenden Bücher aus den Regalen und blätterte fieberhaft. Aus der Ferne hörte er Susanne, die sich mit einem „Seid ihr zwei jetzt total übergeschnappt, oder was?“ beschwerte.
Erst als Chris die wichtigsten Lexika und Rechtswörterbücher auf dem Schreibtisch ausgebreitet und an den richtigen Stellen aufgeschlagen hatte, nahm er die beiden Frauen wieder wahr.
Karin lehnte scheinbar gelassen am Türrahmen, die Hände tief in den Taschen ihrer Jeans vergraben. Aber in ihrem Blick lag nervöse Erwartung — und das Wissen, dass sie den entscheidenden Punkt erkannt hatte.
Susanne stand mit geballten Fäusten mitten im Raum. „Ich eigne mich nicht so gut fürs `Literarische Quartett´“, fauchte sie. „Würdet ihr also die Güte besitzen, mich aufzuklären?“
Chris deutete mit dem Kopf Richtung Schreibtisch. Als die Kommissarin näher trat, verlangte er: „Lies die Stichworte zu Adoption, beziehungsweise Mantelkind!“
Susanne überflog die Seite, die ihr am nächsten lag. „Mantelkind“, las sie laut. „Kind, das durch Einhüllen in den Mantel der Mutter an Kindes statt angenommen oder in dieser Form durch nachfolgende Ehe legitimiert wurde.“
Sie warf Karin einen nicht zu deutenden Blick zu, ehe sie sich das nächste Buch vornahm. Es war das „Deutsche Rechtswörterbuch“. „Mantelkind, vorehelich geborenes Kind, das bei der späteren Eheschließung der Eltern von der Mutter (seltener vom Vater) unter den Mantel genommen und damit legitimiert wird. Auch Liebeskinder.“
Sie sah kurz zu Chris. Dann las sie aus dem „Deutschen Privatrecht“: „In Deutschland galten voreheliche Kinder als ehelich, die unter dem Mantel mit in die Kirche gebracht wurden (Mantelkinder).“
„Vermutlich handelt es sich um ein germanisches Recht“, erklärte Chris. „Es hatte in den verschiedensten Varianten lange Zeit Gültigkeit. Das illegitime Kind wird unter `den Mantel des Schweigens´ genommen, so vermutet man den Ursprung. Rein rechtlich waren die Kinder zwar anerkannt und gleichgestellt durch dieses Ritual, aber Mantelkind war auch immer ein Schimpfwort für uneheliche Kinder.“
Susanne drehte sich von den Büchern weg und sah ihre Freunde an. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Fensterkitt. „Die beiden Kinder sind unehelich. Also werden sie direkt vor oder nach ihrem Tod noch schnell legitimiert, indem er sie zudeckt“, überlegte sie laut.
„Ihre Eintrittskarte in den Himmel“, vollendete Karin den Gedankengang. „Dahin, wo Claudia, der Engel ist.“
„Verstehe, was du meinst. Unehelich würden sie in der Hölle schmoren. Die Kerze dient als Wegweiser und die Ehelicherklärung als Berechtigungsschein. Mein Gott, aus welchem kranken Hirn kommt das?“
„Es muss jemand sein, der selbst unehelich ist“, behauptete Chris mit Nachdruck. Er dachte an das, was Grete Horn über Kindheitstraumen und ihre Bewältigung gesagt hatte. „Vielleicht hat man ihm als Kind immer erzählt, dass er sowieso nicht in den Himmel kommt. Er ist unehelich und kann wahrscheinlich nicht ertragen, allein zu sein. Er kann nicht ertragen, dass Claudia allein ist.“
Susanne nickte. „Leute, ich glaube, das ist es! Und das heißt, dass er Annika und Sonja so gut gekannt haben muss, dass er über ihre Familienverhältnisse informiert
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