Mantelkinder
gewesen war.“
Sie sah auf die Uhr. Es war 13 Uhr 50. „Kölnkenner, unehelicher Schöngeist, Affinität zu Wasser. Das schaffen wir! Wir müssen einfach!“
Sie stürzte zum Telefon und versuchte, Hellwein aufzutreiben. Als sie ihn endlich an der Strippe hatte, blaffte sie in den Hörer: „Trommel die ganze Mannschaft zusammen! Alle! Und die Breitner! Ich bin in zwanzig Minuten da!“
Wie sie es fertigbringen wollte, an einem Freitagnachmittag in dieser Zeitspanne von einer Rheinseite auf die andere zu kommen, war Chris schleierhaft.
Die Kommissarin knallte das Telefon hin, dass es schepperte und wandte sich an Chris und Karin. „Passt auf! Ich muss noch ein paar Dinge in die Wege leiten. Dann knöpfe ich mir mit Hellwein die Klausen und die Böhm vor. Ihr beide fahrt zu den Seibolds. Ich faxe denen eine komplette Liste aller Leute, die mit Claudia zu tun hatten. Geht sie mit ihnen durch. Vielleicht wissen sie, ob der eine oder andere unehelich ist. Quetscht sie aus, trampelt auf ihren Nerven rum, aber bringt mir einen Namen! Und Chris — schalt dein gottverdammtes Handy ein!“
Das gottverdammte Handy klingelte schon, bevor sie überhaupt loskamen. Chris musste vor lauter Nervosität aufs Klo. Karin fiel im letzten Moment ein, dass es ein langer Tag werden könnte und sie tauschte das „alte Mädchen“ gegen ihre Krücken.
„Wir haben die nächste Vermisstenmeldung.“ Es klang so, als sei Susanne tatsächlich schon im Präsidium. „Dennis Kaschenbach, acht Jahre, aus Bayenthal. Blond, Locken, charmant-kess. Die Mutter läuft Amok!“
„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, murmelte Chris. Er stand im Treppenhaus und hielt Karin die Haustür auf.
„Ja — und noch was. Er ist unehelich.“
„Unsere Theorie scheint also zu stimmen.“
„Wenn wir falsch liegen …“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Aber Chris wusste auch so, was Susanne hatte sagen wollen.
„Die nächste also“, stellte Karin fest, als er das Handy wegsteckte.
„Ein Junge“, gab Chris zurück. „Er ist acht.“
„Wusstest du, dass sie beide unehelich waren?“
Er schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Das fehlende Puzzle-Stück. Ein winziges Detail. Susanne hatte ihm zwar gesagt, dass Martina Klausen und Sabine Böhm alleinerziehend waren, aber er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Kinder aus einer gescheiterten Ehe stammten. Über das Wagendach hinweg sah er zu, wie Karin den dunkelblauen Golf aufschloss. Hätte er geschaltet, wenn er es gewusst hätte? … Vielleicht …
Karin fuhr schon los, eher er überhaupt angeschnallt war. Es hatte angefangen zu regnen. Chris sah aus dem Seitenfenster auf die Bindfäden, die vom Himmel fielen. Lagen Sie wirklich richtig? Würden sie es noch schaffen, diesen Schweinehund zu finden, oder würde es in ein paar Stunden keinen Dennis Kaschenbach mehr geben?
„Es ist eine Frau“, riss Karin ihn aus seinen Gedanken.
„Was?“
„Es ist eine Frau“, wiederholte sie geduldig.
„Karin! Das Täterprofil war eindeutig!“
„So eindeutig wie der Apfel, was?!“ Sie schüttelte den Kopf. „Chris, denk nach! Diese Rituale, die Art des Tötens. Und in deinen Büchern stand, dass es meist Frauen waren, die die Kinder auf diese Weise legitimiert haben.“
„Wieso hattest du eigentlich ausgerechnet diese Stelle von Fontane im Kopf?“
„Wir haben Grete Minde in der Schule gelesen, und ich fand es so gemein, wie Gerdt mit Grete umgegangen ist. Das war eine der fiesesten Stellen.“ Sie drosselte das Tempo und hielt schließlich an. Die aufleuchtenden Bremslichter vor ihnen sahen aus wie Perlen auf einer Schnur. Weit vorn zeigte eine Ampel das rote Signal. Es würde dauern. Karin murmelte einen Fluch, ehe sie weiter erklärte: „Später ist mir das Mantelkind öfter begegnet. Bei Jean Paul zum Beispiel oder Thomas Mann. Jesus hat man auch öfter als Mantelkind bezeichnet. Das Adoptivkind.“
Das Gesicht von Wolfgang Seibold war grau und eingefallen, seine Hose fleckig, und er hatte sich wohl seit Tagen schon nicht mehr rasiert. Auch seine Frau war schmaler geworden, aber in ihre Augen kehrte langsam das Leben zurück. Sie versorgte den Haushalt und die Zwillinge jetzt ohne die Hilfe ihrer Schwester und wollte nächste Woche wieder ihre stundenweise Arbeit aufnehmen. Wolfgang hingegen ließ sich immer noch krankschreiben und pflegte seine Depression. Chris hatte mehrfach mit ihm darüber geredet, aber Wolfgang wollte weder etwas von einer
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