Mantramänner
Lippe.
Wir überquerten die Straße, wichen haarscharf einem Fahrrad fahrenden Kind mit einem zwei Meter hohen Prinzessin-Lillifee-Wimpel an einer sehr flexiblen Kunststoffstange aus und bogen schließlich in den Park ein. Ich warf einen leidenden Seitenblick auf Siv. Wenn er wirklich so ein Karma-Yoga-Jünger war, konnte er die Gelegenheit gern wahrnehmen und das glühende Monster für mich tragen. Doch er machte keine Anstalten dazu.
Auf der großen Wiese im Park kauerten Frauen mit Migrationshintergrund auf Picknickdecken mit Plastikunterseite und öffneten eine Tupperware nach der anderen, während ihre Männer große, blutige Fleischstücke auf einem Grill verteilten. Jungen kurvten mit ihren Skateboards um die Ecken. Mädchen joggten bauchfrei.
»Also«, fragte Siv, »was genau wolltest du jetzt von mir wissen?«
Der Chai war immer noch kochend heiß. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt. Allerdings hätte Siv dann meine Naturverbundenheit überhaupt nicht mehr ernst genommen.
Auf seine Frage wäre mir so einiges eingefallen. Ob er eine Freundin hatte, zum Beispiel. Oder was er mit seinem rasierten Kopf machte, dass der immer so appetitlich glänzte. Glücklicherweise konnte ich mich beherrschen.
»Ja, also«, fing ich an, »wie gesagt, ich werde in meiner Abteilung demnächst einen Yoga-Workshop geben. Ich arbeite in einem großen Reisekonzern, Sunny Side, vielleicht erinnerst du dich, es gab da diese bekannte Radiowerbekampagne. Gesungen von Aisha Schnepfke, die in der fünften Staffel von DSDS Dritte geworden ist. ›Reisen zu kleinen Preisen‹. Später hieß der Text ›Reisen zu ganz kleinen Preisen‹. Und dann ›Reisen zu winzig …‹«
»Evke?« Siv war stehen geblieben und legte mir ohne Vorwarnung
seine Hand auf den Unterarm. Ich zuckte vor Überraschung zurück. Der Chai spritzte und hinterließ einen Fleck in Höhe meines Nabelchakras. Immerhin war der Becher jetzt nicht mehr ganz so voll.
Siv ließ seine Hand auf meinem Arm liegen und sah mir in die Augen. Und ich in seine. Schokoladenbraun, mit goldenen Sprenkeln. Das Meer bei Goa, im Sonnenuntergang. Dann beugte er sich zu mir herunter. Ich hätte beinahe mit meiner Nasenspitze seine Nasenspitze berühren können. Wenn ich nicht komplett bewegungsunfähig gewesen wäre.
»Siv«, hauchte ich. Die Härchen auf meinem Unterarm stellten sich auf. Der ganze Park um mich herum begann sich zu drehen. Grills und Laufradkinder, Joggingfrauen und saftig grüne Buchen wirbelten wie ein Windrad um mich herum, immer schneller, bis ich nichts mehr erkennen konnte.
Jetzt würde es geschehen. Schneller als erwartet, überraschend. Yogis hatten eben oft ihr eigenes, ganz unberechenbares Tempo. Vielleicht brauchte der Namaste-Versand zwei Wochen, um meine Armstulpen einzutüten. Aber Siv nur eine Viertelstunde, um mich zu …
»Evke, ich muss dich mal kurz unterbrechen. Weißt du, was ich am Yoga besonders schätze? An dieser ganzen Community?«
Stumm schüttelte ich den Kopf. Halb rechnete ich immer noch damit, dass er mich küssen wollte. Doch ich musste zugeben, es war schon eine etwas seltsame Einleitung.
»Dass die Menschen einander ohne Masken begegnen. Pur, wenn du verstehst, was ich meine. Weil sie sich nicht hinter Oberflächlichkeiten verstecken müssen, den imposanten Berufsbezeichnungen auf ihren Visitenkarten, Adressen in schicken Wohnvierteln, Automarken. Nichts gegen deine Reisefirma, aber so genau will ich das alles gar nicht wissen.«
Jetzt war ich völlig aus dem Konzept gebracht. Alles war plötzlich sehr still, bis auf das Geschrei eines Jungen auf der Wiese.
»Ich hab dem Metin seine Grillzange nicht!«, rief er. »In echt jetzt!«
Siv drückte meinen Arm freundschaftlich, so wie man es bei einem Kind machen würde. Dann ging er einfach weiter, als wäre nichts passiert.
Ich stolperte hinterher und fühlte mich, als hätte gerade jemand einen Gartenschlauch auf mich gehalten und voll aufgedreht.
»Weißt du«, begann Siv, »im Grunde gibt es beim Yoga keine Regeln. Du kannst natürlich eine Gruppe anleiten und die Asanas in der Reihenfolge vorführen, wie wir es auch beim Workshop in Werderhorst gemacht haben. Du kannst dir aber auch selbst ein Programm zusammenstellen. Das ist oft eine Frage des Gespürs, der Achtsamkeit für die Energie, die in einer Gruppe herrscht. Da merkst du selbst am besten, was für die anderen gut ist. Und für dich selbst.«
Ich nickte eifrig, dankbar, dass er das peinliche Schweigen
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