Manuskript des Teufels
Blackwater hatte 32 Dienstjahre auf dem Buckel, von denen sie über 20 Jahre im Vorzimmer des CIA-Direktors gesessen hatte. Man hätte sie als Faktotum der CIA bezeichnen können.
Seit knapp vier Jahren stand sie im Dienste von Mc Leen, ihrem dritten Chef, den sie sehr schätzte. Im Stillen sogar ein wenig verehrte. Sie mochte ihn wegen seines angenehm rücksichtsvollen, fast familiären Umgangs mit allen Mitarbeitern. Was ihn ihrer Meinung nach besonders auszeichnete, war seine Fähigkeit, knallharte Entscheidungen zu treffen, die stets mit höchster Fachkompetenz untermauert waren.
Janny Blackwater war schon jenseits der Fünfzig und eine liebenswerte Erscheinung. Trotz ihrer geringen Größe von 1,58 m und ein paar Pölsterchen, die sie geschickt zu kaschieren vermochte, galt sie als Respektsperson, und alle mochten sie. Ihre langjährige Erfahrung und ihr Insiderwissen brachten ihr Anerkennung und Achtung ein. Mancher Mitarbeiter der CIA, darunter auch Abteilungsleiter und Chefs, scheuten sich daher nicht, Janny gelegentlich um Rat zu fragen.
Sie wählte die Nummer der Kantine. „Hallo, Lucy. Ich nehme an, dass die Diplomgruppe draußen im Kantinengarten hockt und ziemlich laut über die Gestaltung ihrer Abschlussfeier nachdenkt. Tust du mir bitte einen Gefallen? Bestell dem lieblichen Abraham, dass er zum Chef kommen möchte.“
„Selbstverständlich, Janny. Und wer ist das?“
„Der Nette mit den schulterlangen schwarzen Locken. Und Lucy: Erklär ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Es hat nichts mit seiner Diplomarbeit zu tun.“
„Das wird ihn beruhigen. Bin schon unterwegs.“
Eine Viertelstunde später betrat Abraham Liebling mit respektvoller Zurückhaltung das Allerheiligste, wie hier das großräumige Dienstzimmer des mächtigen CIA-Direktors genannt wurde.
„Schön, Mister Liebling, dass Sie so schnell kommen konnten. Möchten Sie etwas trinken?“
„Nein, Danke. Ich habe mir gerade in der Kantine eine große Cola geleistet.“
„Kommen Sie“, lud ihn Mc Leen ein, „machen wir es uns drüben in der Sitzgruppe bequem.“ Er wies den jungen Agenten an, Platz zu nehmen. Als Mc Leen ebenfalls saß, fuhr er fort: „Ich darf Ihnen gratulieren zu Ihren ausgezeichneten Noten und Ihren hervorragenden Leistungen während der Ausbildungszeit. Aber jetzt geht es um etwas ganz anderes. Wie ich gelesen habe, beherrschen Sie Deutsch wie eine Muttersprache.“
„Das stimmt, Sir. Bei uns wurde das überlieferte Motto befolgt, wer in Amerika lebt und dort aufgewachsen ist, der erlernt das amerikanische Englisch automatisch. Wer aber eine andere Sprache als seine Muttersprache beherrschen will, muss sie zu Hause sprechen. Und das war bei uns daheim das geliebte Deutsch.“
„Das lässt sich gut an“, erwiderte Mc Leen erfreut, „ich glaube, dass wir beide ins Geschäft kommen. Auch wenn ich mich an Ihren ausgefallenen Namen, CIA-Geheimagent Mister Abraham Liebling, erst noch gewöhnen muss.“ Er legte eine Pause ein und schaute den Diplomanden scharf an. „Ihr erster Einsatz steht bevor.“
Liebling zuckte mit den Augenbrauen. „Schon?“
„Ja, es handelt sich um einen Auslandseinsatz im Land Ihrer zweiten Muttersprache und Ihrer Ahnen, in Deutschland.“
Abraham Liebling rutschte in aufrechter Haltung in seinem großen Sessel weit nach vorne und schaute sein Gegenüber mit erwartungsvollen Augen an, wie jemand, der äußerste Aufmerksamkeit zum Ausdruck bringen will.
„Ich erkläre Ihnen kurz, um was es geht. Ein detailliertes Auftragsprotokoll lasse ich Ihnen morgen früh zustellen. Soweit uns mitgeteilt wurde, hat ein junger deutscher Theologieprofessor von der Universität Bonn mit einem Manuskript eine brennende Lunte an ein hochexplosives Pulverfass gelegt, das die tragenden Säulen der großen Kirchen zum Einsturz bringen könnte. Und das in einer Zeit, in der das Ansehen der Kirchen durch zahlreiche Affären und autoritäres fundamentalistisches Gehabe schwindet und die Zahl der Kirchenaustritte zunimmt. Die Politik befürchtet, dass ein Wegbrechen der Kirchen mit einem Verfall ethisch-moralischer Werte einher-gehen könnte. Die vielseitigen sozialen Leistungen der Kirchen würden wegfallen, der soziale Frieden vieler Staaten wäre gefährdet.“ Mc Leen sah seinen jungen Mitarbeiter an, als wolle er in seinem Gesicht lesen, was er von dem bisher Gehörten hielt. „Jener Hochschullehrer namens Stephan D’Aubert hat sich bereits mit zahlreichen Veröffentlichungen einen
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